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Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse Sitzungsberichte, 298. Band, 5. Abhandlung Veröffentlichungen der Kommission für Linguistik und Kommunikationsforschung herausgegeben von Alexander Issatschenko und Manfred Mayrhofer. Heft 3
Mythen und Tatsachen über die Entstehung der Russischen Literatursprache
Alexander Issatschenko
Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1975
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Inhaltsverzeichnis
0. Das Kirchenslavische als sakrale Sprache der Ostslaven 5
1. Gab es in der Kiever Rais’ eine „Literatursprache“? 8
3. Die ostslavisch-kirchenslavische Diglossie 23
4. Eine kontrastive Skizze des Kirchenslavischen und des Ostslavischen 27
5. Zur Charakteristik des Ostslavischen 34
6. Zwei Sprachen, zwei Stile oder zwei „Sprachtypen“? 39
7. Fortbestand der Diglossie bis Peter I 46
(Das Kirchenslavische als sakrale Sprache der Ostslaven)
0.1. Das Wort „Literatursprache“ ist eine Notübersetzung des russischen Ausdrucks literaturnyj jazyk, der im Deutschen weder mit ,Schriftsprache’ noch mit ,Hochsprache’, noch mit ,Standardsprache’ wiederzugeben ist. Im heutigen Russisch bedeutet literaturnyj jazyk soviel wie die genormte, für alle verbindliche und stilistisch wohldifferenzierte Nationalsprache der Russen, die in allen öffentlichen Belangen sowohl in schriftlicher wie auch in mündlicher Form gebraucht wird. Es ist dies die Sprache der schönen Literatur, der Presse, des Theaters, der Schule, der Wissenschaft, die Sprache der Verwaltung und der Justiz, die einzig mögliche Sprache der Massenmedien. Es ist aber auch die Sprache des mündlichen Verkehrs unter den Gebildeten. Das Besondere an der soziolinguistischen Situation des Russischen liegt darin, daß die gesprochene Sprache der Gebildeten kaum Spuren des mundartlichen Hinterlandes aufweist. Die Autorität der sprachlichen Norm ist auch heute im Russischen deshalb so stark, weil man nach der Revolution von 1917 das Analphabetentum mit allen Mitteln bekämpfte und Abweichungen von der Norm als „kulturlos*’ oder als Reste eben dieses Analphabetismus wertete. Im Gegensatz etwa zum Deutschen besitzt das Russische keinerlei regionale Varianten der Hochsprache. Bezeichnenderweise hat es in Rußland niemals Dialektdichtung gegeben. Im folgenden wollen wir diesen Ausdruck literaturnyj jazyk ganz konventionell mit „Literatursprache“ wiedergeben.
Die Semantik eines Begriffs, wie literaturnyj jazyk ist zweifellos vom geschichtlichen Kontext, in dem dieser Begriff gebraucht wird, abhängig. Der Verfasser dieser Zeilen hat versucht, den Terminus „Literatursprache’ für die Gegenwart in folgender Weise zu definieren:
Die Literatursprache ist polyvalent, das heißt sie dient allen Bereichen des Lebens einer Nation.
(1) Sie ist normiert (hinsichtlich der Rechtschreibung, der Aussprache, der Grammatik und des Wortschatzes).
(2) Sie ist allgemein verbindlich für alle Mitglieder einer Nation.
(3) Sie ist stilistisch differenziert (1958, 42).
(4) Es ist klar, daß diese Merkmale für keine der von den Ostslaven im Mittelalter gebrauchten Sprachen zutreffen.
0.2. Es gibt in Europa mehrere recht unterschiedliche Entwicklungswege, die zur Schaffung von Literatursprachen führen. Häufig ist es das aufstrebende Bürgertum, das die Vorherrschaft einer von der
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herrschenden Schicht gepflegten Fremdsprache (etwa des Lateinischen, des Französischen oder des Deutschen) abwirft und darangeht, aus den Mitteln der Volkssprache eine den vielfältigen Ansprüchen der Zeit angemessene Schriftsprache aufzubauen. So hat Luther die von ihm geformte Sprache als Kampfansage an das Lateinische aufgefaßt. So waren im deutschen Sprachgebiet die „Nutzbringenden Gesellschaften“ vom Wunsch beseelt, französische Elemente durch deutsche zu ersetzen. Der serbische Philologe Vuk Karadžić machte seinen herzegovinischen Dorfdialekt zur Grundlage der modernen serbokroatischen Schriftsprache. Ähnlich wie Vuk Karadžić verfuhr auch der slovakische Publizist Ľudοvít Štur, der in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts aufgrund des mittelslovakischen Dialektes eine vom Tschechischen verschiedene Nationalsprache der Slovaken entwickelte. Diese Sprachen zeichnen sich dadurch aus, daß sie puristisch und xenophob, das heißt fremdwortfeindlich sind, ältere Sprachzustände weitgehend ignorieren, mit bestehenden Traditionen brechen und sich in erster Linie an die vorwiegend gesprochene Sprache einer vorwiegend agraren Bevölkerung halten. Paradoxerweise gilt in diesen Sprachen der Dorfdialekt als letzte Instanz der schriftlichen Norm. Die Entstehung solcher Schriftsprachen steht meist im Zusammenhang mit der nationalen Wiedergeburt eines Volkes.
Im krassen Gegensatz zur solchen, aufgrund lokaler Mundarten geschaffenen Schriftsprachen stehen Sprachen mit langer kontinuierlicher Schrifttradition, die sich noch vor der Übernahme der führenden politischen Bolle durch das nationale Bürgertum im Schoß einer aristokratischen Gesellschaft etablieren konnten. Das Französische ist ein typischer Vertreter dieser zweiten Gruppe. Der anspruchsvolle Stil, die Eleganz, die „politesse“ und die berühmte „clarté“ des Französischen waren innerhalb der aristokratischen Gesellschaft entstanden und ausgefeilt worden. Die Sprache war gar nicht für den Angehörigen der Unterschichten, den vilain, bestimmt, und der Bürger hatte, wenn er kulturell den Status eines Edelmannes anstrebte, die Sprache des Adels zu erlernen. Das Französische hielt sich in Wortbildung und Syntax immer wieder an klassische Vorbilder, es schöpfte seine Terminologie, die mots savants, aus dem Bestand lateinischer und griechischer Wurzeln. Kein Wunder, daß die französische Sprache Jahrhunderte hindurch die große Lehrmeisterin der europäischen Nationen blieb.
0.3. Das russische Volk hatte, wie das französische, niemals in der Geschichte um seine Unabhängigkeit und Identität zu kämpfen gehabt.
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Die mongolisch-tatarische Verwaltung eines Teils des russischen Gebiets im Mittelalter (das sogenannte „Tatarenjoch“) bedeutete keine wirkliche Gefahr für den nationalen Bestand des russischen Volkes. Auch die Entstehung der modernen russischen Literatursprache fällt in eine Zeit, als das russische Bürgertum noch kaum in Erscheinung trat. Es lassen sich gewisse Parallelen mit dem Entstehungsprozeß des Französischen nicht leugnen. Am allerwenigsten ist das Russische eine aus der Volkssprache hervorgegangene Sprache, wie etwa das Tschechische, das Slovakische oder das Slovenische. Um die spezifische Problematik der Entstehung der heutigen russischen Literatursprache ins richtige historische Licht zu rücken, sei mir erlaubt, die wichtigsten Epochen des Russischen gleichsam im Zeitraffer in Erinnerung zu bringen.
0.4. Seit der Einführung des byzantinischen Christentums in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts gab es auf dem Gebiet der Ostslaven von Kiev bis Novgorod zweierlei Texte. Alles was mit der Religion, dem Gottesdienst, der moralischen Erbauung, schließlich mit mittelalterlicher Geschichtsschreibung und enzyklopädischer Wissensvermittlung zusammenhing, war in kirchenslavischer Sprache verfaßt. Das Kirchenslavische war in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts für Missionszwecke aufgrund eines bulgarisch-mazedonischen Dialektes geschaffen und Ende des 10. Jahrhunderts zusammen mit dem byzantinischen Christentum ins Kiever Reich verpflanzt worden (Jagić 1913, F. Griveo 1960). Trotz der nahen genetischen Verwandtschaft zwischen dem Ostslavischen und dem Südslavischen war der Unterschied zwischen der in Kiev und Novgorod gesprochenen lingua vernacula und den bulgarisch-mazedonischen Übersetzungen des Neuen Testaments grundsätzlicher Natur. Die Sprache dieser Übersetzungen — das Altkirchenslavische — folgte in allen Einzelheiten dem griechischen Original. Sie war in der Tat ein in slavische Morpheme travestiertes Griechisch. Das Altkirchenslavische (Aksl.) wurde ja nirgends als Sprache einer slavischen Bevölkerung gesprochen. Es war eine künstliche Sakralsprache und als solche dem Bereich des Alltäglichen entrückt. Zusammen mit der neuen Religion hatten die Ostslaven das Kirchenslavische übernommen und nur in unwesentlichen Details, die vor allem die Aussprache betrafen, den Normen des Ostslavischen angeglichen. Die Erlernung dieser Sprache erforderte auch von den ostslavischen Mönchen und Laien jahrelanges Studium und setzte wohl auch die Kenntnis des Griechischen voraus.
0.5. Man hat oft die Funktion des Kirchenslavischen bei den orthodoxen Slaven mit der des Lateinischen in Westund Mitteleuropa ver
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glichen. Die Übereinstimmungen sind aber nur partiell. Es ist richtig, daß sowohl das Lateinische als auch das Kirchenslavische die Sprache der Kirche und der geistigen Kultur waren. Aber in Westund Mitteleuropa wurde das Lateinische auch als Sprache der Verwaltung, der Gesetzgebung und des Gerichtswesens verwendet, es hatte also Eingang gefunden in den ausgesprochen weltlichen Bereich. Im Gegensatz dazu war bei den Ostslaven das Kirchenslavische auf den kirchlich-geistigen Bereich beschränkt geblieben. Für alle praktischen Zwecke, für die Abfassung von Gesetzbüchern, Verträgen und Urkunden aller Art wurde das bodenständige Ostslavisch verwendet. Dieser Zustand einer eigenartigen Diglossie ist für die sprachliche Situation bei den Ostslaven und später bei den Russen bis ins 17. Jahrhundert charakteristisch.
Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges galt die These von der grundsätzlichen Zweisprachigkeit im Kiever und später im Moskauer Staat als unumstritten. Alle grundlegenden Arbeiten zur russischen Sprachgeschichte gingen von dieser These aus, vgl. Budde 1908, 1914; Bulachovskij 1936; Durnovo 1924; Istrina 1923; Jagić 1889; Sobolevskij 1907; Šaxmatov 1910—1912; Trubetzkoy 1927 und viele andere. Das linguistisch wie philologisch gesicherte und vom wissenschaftlichen Standpunkt unanfechtbar scheinende Gemeingut der russischen Sprachgeschichte wurde durch eine eigenartige Mythenbildung in Rußland selbst in Frage gestellt. Die Entstehung dieser Mythen zu verfolgen und auf ihren rationalen Kern zu prüfen, ist Aufgabe der folgenden Abschnitte.
(Gab es in der Kiever Rais’ eine „Literatursprache“?)
1. Im Jahre 1946 veröffentlichte der sowjetische Forscher S. P. Obnorskij seine Schrift „Studien zur Geschichte der russischen Literatursprache der älteren Periode“. Aufgrund sprachlicher und stilistischer Untersuchungen von Texten, deren ältester in einer Abschrift aus dem Jahre 1282 vorliegt, versuchte Obnorskij nachzuweisen, daß die Sprache dieser Denkmäler „die gemeinsame russische Literatursprache der älteren Epoche“ darstellt (6) und daß sich die russische Sprache „in eigenständiger Weise“ (самобытным путем) entwickelte (7).
Die Anfänge dieser eigentlichen russischen Literatursprache der älteren Epoche führte Obnorskij auf eine Zeit zurück, da das Christentum und mit ihm die kyrillische Schrift bei den Ostslaven noch nicht eingeführt waren. Obnorskijs ,Studien’ sollten unter anderem beweisen, daß die Vorstellungen von den kirchenslavischen Elementen im Russischen „übertrieben“ sind (8).
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1.1. Der pathetisch-patriotische Ton dieser Abhandlung, die Vorverlegung der Kulturtradition der Ostslaven in die heidnische Vorzeit und die Betonung einer von allen äußeren Einflüssen unabhängigen Entstehung der „russischen Literatursprache“ stand in voller Übereinstimmung mit der seit etwa 1936 in der Sowjetunion propagierten patriotischen Ideologie. Obnorskij erhielt für seine Schrift den Stalinpreis.
Schon 1934 hatte Obnorskij über die „Russkaja Pravda als Denkmal der russischen Literatursprache“ geschrieben. Einer der führenden russischen Slavisten, A. M. Seliščev, schrieb 1941 eine vernichtende Kritik auf Obnorskijs Thesen. Man hielt es damals offenbar nicht für opportun, diese Entgegnung zu veröffentlichen. Seliščevs Kritik erschien schließlich postum in der Zeitschrift Voprosy jazykoznanija 1957, also vier Jahre nach dem Tode Stalins.
1.2. Die philologisch und historisch anfechtbaren Thesen Obnorskijs machten in der Sowjetunion in den ersten Nachkriegsjahren Schule. P. Ja. Černych veröffentlichte seine völlig aus der Luft gegriffenen Impressionen über den Ursprung der russischen Sprache in zahlreichen Arbeiten, darunter auch in Lehrbüchern, die für die Studenten philologischer Fakultäten bestimmt waren (1951, 1952). Öernych versuchte auch die „Entstehung der russischen Schrift“ in einem neuen Licht darzustellen.
Im VIII. Kapitel der Vita Constantini wird von einer diplomatischen Reise des Philosophen Konstantin-Kyrill zu den Chasaren berichtet (um 860). Bei einem Aufenthalt in Chorsun auf der Halbinsel Krim soll der Philosoph ein Evangelium und einen Psalter „in russischen Buchstaben“ (руськыми письмены) zu Gesicht bekommen haben, und — о Wunder ! — der Philosoph konnte den Text lesen. Für Černych ist dies der Beweis dafür, daß der byzantinische Gelehrte, der ja das Bulgarische seiner Heimatstadt Saloniki beherrschte, einen „russischen“ Text mühelos verstehen konnte: „Es ist natürlich anzunehmen, daß die Bücher von Chorsun nicht nur in russischen Buchstaben, sondern auch in altrussischer Sprache geschrieben waren“ (1951, 131).
Das Motiv von der Existenz „russischer Buchstaben“ lange vor der Erfindung der kyrillischen Schrift und vor der Einführung des Christentums in der Kiever Rus’ gegen Ende des 10. Jahrhunderts ist nicht ganz neu. Diese Frage steht in engem Zusammenhang mit einem weiteren Mythos : es gibt Gelehrte, die das sagenhafte Volk der Anten als die unmittelbaren Vorfahren der Ostslaven ansehen.
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P. S. Kuznecov geht noch weiter und schreibt: „Alles spricht dafür, daß der mächtige und hochkultivierte Staat der Anten irgendwelche Formen des Schrifttums besessen hatte“ (1953, 354) [1].
Es bleibt fraglich, auf welche historischen oder philologischen Argumente Kuznecov seine Aussagen stützt. Weder ist bekannt, daß die Anten je einen „Staat“ gehabt hätten, geschweige denn, daß dieser nicht existente Staat „mächtig“ und „hochkultiviert“ war. Spricht wirklich „alles dafür“, daß die Anten ein Schrifttum besaßen?
Inzwischen ist die Stelle aus der Vita Constantini recht überzeugend gedeutet worden : die Form руськыми письмены ist eine (bewußte oder unbewußte) Buchstabenumstellung aus сурьскыми письмены ,mit syrischen Lettern’, und es ist bekannt, daß Konstantin-Kyrill fünf Sprachen, darunter Syrisch, beherrschte (Jakobson 1939/44).
Man war geneigt gewesen, die völlig unwissenschaftliche Behandlung der Antenfrage, die man in der Sowjetunion ironisch „Antologie“ zu nennen pflegt, für einen Auswuchs der fünfziger Jahre zu halten. Doch scheinen Mythen recht langlebig zu sein. Im Jahre 1973 lesen wir in einem Lehrbuch des Altrussischen:
„Am zahlreichsten (самыми многочисленными) unter allen slavischen Stämmen waren die Anten, die Vorfahren der Ostslaven [. . .]. Im IV. Jh. nahmen sie weite Gebiete vom Unterlauf des Dnepr und Dnestr im Süden bis zum Ladogasee im Norden, von den Karpaten im Südosten bis zum Oberlauf der Volga im Nordosten ein“ (Samsonov 1973, 25).
Welche sprachlichen, archoälogischen oder historischen Quellen berechtigen Samsonov, ein derart imposantes Bild von der Verbreitung der „Anten“ zu malen? Die bloße Erwähnung der Antes bei Jordanes („Getica“) dürfte weder für die Identifizierung der Anten mit den Ostslaven noch für die Abgrenzung ihres Siedlungsgebietes ausreichen.
Übrigens muß jeder Versuch, das Adjektiv rusьskyj im 9. Jahrhundert auf die slavischen Bewohner Osteuropas zu beziehen, als grober Anachronismus angesehen werden. Der Name Rus᾿ und das Adjektiv rusьskyj bezeichnen zwar in der viel später entstandenen Nestorchronik das Gebiet des Kiever Staates und dessen Bewohner, doch bezieht sich
1. Bekanntlich stehen marxistische Historiker auf dem Standpunkt, daß die Entstehung des Staates ursächlich mit der klassenmäßigen Differenzierung der Gesellschaft zusammenhängt. Dementsprechend verlegen so wjetische Historiker die Entstehung des ostslavischen Kiever Staates ins 7. bis 9. Jh. Wenn also Kuznecov von einem „Staat der Anten“ spricht, ob wohl wir über die gesellschaftliche Struktur der sagenhaften Anten absolut nichts wissen, so befindet er sich in einem krassen Widerspruch zur sowje tischen und marxistischen Geschichtsforschung.
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im 9. Jahrhundert das Ethnonym Rus᾿ ausschließlich auf die germanischen Varäger, die sich in Osteuropa angesiedelt hatten, mit Byzanz Handel trieben und die Kaiserstadt mitunter auch überfielen, sich aber auch als Söldner am Bosporus verdingen ließen. Die fränkischen Annales Bertiniani berichten unter dem Jahre 839 von einer Gruppe von Fremden, die sich als Rhos ansprechen lassen und die von Kaiser Theophilus von Byzanz zum westlichen Kaiser Ludwig dem Frommen geschickt wurden. Ludwig gelang es, die Herkunft dieser Fremden festzustellen: „comperit eos gentis esse Sueonum“ (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores I, 434). Die Gleichung Rhos = Schweden ist hier zum erstenmal belegt. In den byzantinischen Quellen heißen die germanischen Varäger konsequent Ῥῶς; die Form Βάραγγοι ist viel jünger (Obolensky 1970, 161).
Im IX. Kapitel seines Werkes De administrando imperio führt Kaiser Konstantin VII. Porphyrogenetus (948—952) die Namen der Dneprstromschnellen an, die man auf dem Weg von Novgorod und Kiev nach Konstantinopel passieren mußte. Der Kaiser gibt jedesmal sowohl die „russische“ (Ῥωσιστί) als auch die „slavische“ (Σκλαβινιστί) Lautform an. Die „russischen“ Namen erweisen sich als altschwedisch: Οὐλβορσί ist ein Dativ-Lokativ von Holmfors oder Hulmfors; der „russische“ Name Γελανδρί ist ein altschwedisches Präsenspartizip gœllandi mit der Bedeutung ,laut dröhnend, gellend’, Λεάντι bedeutet altschwedisch ,lachend’ usw. (Karlgren 1947; Falk 1951; Shevelov 1955; Obolensky 1970, 161). Bei den als „slavisch“ gekennzeichneten Namen ist die slavische Herkunft außer jeden Zweifel, vgl. Ὀστροβουνιπράχ = *Ostrovьnyjь pragъ oder praxъ (zu ostrovь ,Insel', pragъ Schwelle’ oder praxъ, (Wasser)staub’), Νεασήτ = Nejęsytь ,Pelikan', Βε-ρούτζη = *Vьručьjь ,siedend, kochend’ oder auch ,verschließend’ (zu vьrěti).
Der sowjetische Historiker I. P. Saskol’skij hält die angeführten Argumente für nicht beweiskräftig:
„Kann man aufgrund dieses Zeugnisses eines ausländischen Besuchers [nämlich des Kaisers Konstantin VII.], der weder Slavisch noch Skandinavisch verstand, die Identifizierung von Rus’ mit den Varägern [Northmen] als bewiesen ansehen?’ (1970, 34).
I. P. Saskol’skij kennt aber sicher auch viele andere Argumente, die für eine solche Identifizierung sprechen. Dem Historiker kann z. B. jene Stelle der Nestorchronik nicht entgangen sein, in der die Varäger verbis expressis mit der Rus’ identifiziert werden :
И идоша за море къ варягомъ, к руси ... И от тѣхъ варягъ прозва ся Руская земля.
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[,Und sie fuhren übers Meer zu den Varägern, zur Rusь . . .
und nach diesen Varägern wurde das russische Land benannt’].
Das Ethnonym Rus’ geht allerdings nicht direkt auf das Altnordische zurück, sondern reflektiert den im Ostseefinnischen verwendeten Namen der Schweden Ruotsi. Dieser finnische Name geht auf altschwedisch rōþs(-karlar) oder rōþs-(mœn) ,Ruderer, Rudermänner’ zurück. Die Finnen hatten mit den Schweden ältere Kontakte als die Ostslaven, und so ist es durchaus natürlich, daß diese letzteren den finnischen Namen Ruotsi übernahmen.
Die Substitution von uo -> u macht keine Schwierigkeiten: der Name der Finnen Suomi ist im Ostslavischen als Sumь belegt. Die Substitution des finn. ts durch ostslav. s scheint jedoch einigen Forschern Schwierigkeiten zu bereiten. H. Chr. Sorensen schreibt:
„Es ist gar nicht leicht einen annehmbaren Grund dafür zu finden, warum das -ts- in Ruotsi nicht mit -c- wiedergegeben wurde, woraus dann altruss. Rucь entstanden wäre“ (1970, 139).
Das Ostslavische besaß gar keine Affrikate /с/, sondern nur das stark palatalisierte Phonem /с’/, welches man kaum mit der Lautverbindung [ts] hätte identifizieren können.
In Wirklichkeit steht die Lautentwicklung *t + s -> s in völligem Einklang mit dem gemeinslavischen und ostslavischen Lautgesetzen.
Schon im Gemeinslavischen werden Konsonantenverbindungen vom Typus ,Verschlußlaut + s’ dadurch vereinfacht, daß der Verschlußlaut schwindet, vgl. lit. vapsà, lett. vapsene, altpreuss. wobse ‚Wespe’, das im Slavischen als osa ,Wespe’ vertreten ist, also *vopsa -> osa. Diese Lautregel bleibt auch noch im Ostslavischen in Kraft: der Name des ostseefinnischen Stammes der Vepsen (finn. Vepsä) lautet im Ostslavischen Vesь, also auch hier veps-> ves- (Shevelov 1965, 188). Ebenso schwindet der Verschlußlaut t vor s in Ruotsi -> Rusь, wobei -ь hier offenbar als Kollektivsuffix anzusehen ist, vgl. Serbь ,die Serben’, Čudь ,die finnischen Bewohner Nordrußlands’, Rusь ,die Varäger, die Schweden’. Natürlich haben diese sprachgeschichtlichen Überlegungen nichts mit der Frage zu tun, ob der Kiever Staat von den Varägern „gegründet“ worden ist oder nicht.
Die Frage nach der Herkunft des Namens Rus’ wird in sowjetischen Lehrbüchern nur selten behandelt, obwohl sich jeder Russe für diese Frage interessieren dürfte. Ein 1973 in Moskau erschienenes Lehrbuch des „Altrussischen“ von N. G. Samsonov (Verlag Vysšaja škola) erwähnt mit keinem Wort die Polemik um die Namen Rusь und rusьskij, sondern beschränkt sich auf die lakonische Feststellung:
„Alle ostslavischen Stämme, welche in der ,altrussischen Nationalität’ (?) vereinigt waren, hießen fortan Rus’ (стали называться Русью)“ (28).
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1.3. Es scheint Generationen russischer Forscher mit tiefen Mißbehagen erfüllt zu haben, daß ihr nationales Ethnonym nicht autochthonslavisch ist. Dies geht soweit, daß man selbst in Lesebüchern, die für Philologiestudenten bestimmt sind, an gewissen Textstellen kosmetische Operationen vornimmt. Obnorskij und Barchudarov, die Herausgeber des überaus populären Lesebuchs zur Geschichte der russischen Sprache (19522), ließen die nicht sehr slavisch klingenden Namen der nach Byzanz geschickten Unterhändler des Großkunings [2] Igor (Ingvar) einfach aus. Es heißt im erwähnten Lesebuch:
мы
от рода рускаго съли и гостье . . . . . . . .
. . . . . . . . . // . . . . . . послани от игорẠ, великого
кнẠзẠ рускаго . . . . (103)
2. Das ostsl. Wort князь geht auf gemeinslav. *kъnędźь zurück, welches urgerm. *kunings (Vasmer, REW I, 581) oder *kuningaz (Kiparsky 1934, 182) wiedergibt. Die Reflexe des Wortes in den einzelnen germanischen Sprachen sind ahd. kuning, anord. konungr, engl. king, nhd. König. Die traditionelle Wiedergabe des Wortes князь in der Nestorchronik durch russ. князь, dt. ,Fürst’ ist offenbar ein Anachronismus. Im heutigen Russisch heißt князь allerdings ,Fürst’ (und schon im 16. Jh. übersetzt der kaiserliche Gesandte Baron Sigmund von Herberstein den Titel князь mit ,Princeps’), doch ist im Frühmittelalter der Titel князь (bzw. великыи князь) der ersten varägischen Herrscher in Osteuropa besser mit ,König’ oder ,Konung’ (bzw. ,Großkonung’) wiederzugeben. In den englisch geschriebenen bzw. ins Englische übersetzten Beiträgen des Bandes Varangian Problems (Kopenhagen 1970) wird ostslavisch князь stets nur als ,king’ übersetzt. Zur Frage des frühmittelalterlichen Königtums vgl. H. Wolfram 1970.
Es darf allerdings nicht übersehen werden, daß der Großkonung von Kiev seit der ältesten Zeit auch Kagan genannt wurde: in den bereits erwähnten Annales Bertiniani heißt es von den Gesandten, die sich Rhos nennen und sich dann als Svei (,Schweden’) entpuppen, ihr Herrscher hieße chacanus (rex illorum, chacanus vabulo). Den Titel Kagan tragen mehrere Herrscher Kievs, das heißt sie werden mit diesem Titel angesprochen (der Metropolit Hilarion lobpreist in seinem „Slovo о zakone i blagodati“ „den großen Kagan unseres Landes, Viadimer“ ; in einem Sgraffito in der Sophienkathedrale in Kiev wird Jaroslav (1019—1054) als Kagan bezeichnet. Man interpretierte diesen Titel bisher als Entlehnung aus einer Türksprache (vielleicht aus der Sprache der Chasaren), vgl. Vasmer, REW I, 499. Nun spricht sich V. Kiparsky für eine andere Erklärung aus, die der finnische Historiker Tuomo Pekkanen vorgeschlagen hat. Demnach soll Kagan auf den skandinavischen Namen Håkon zurückgehen. Kiparsky verweist auf einen Artikel K.-O. Falks in Lingua Posnaniensis XII/XIII, 1968, 9—19, vgl. Varangian problems, 1970, 141. Allerdings ist der skandinavische Name Håkon im Ostslavischen gewöhnlich als Akunъ oder Jakunъ vertreten.
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[,wir vom russischen Geschlecht, Abgesandte und Kaufleute . ..
. . . gesandt von Igor, dem russischen Großkuning’].
Dagegen heißt es in der Chronik unter dem Jahre 945 tatsächlich:
Мы от рода рускаго съли и гостье, Иворъ, солъ Игорев, великаго князя рускаго, и объчии сли: Вуефасть Святославль, сына Игорева; Искусеви Ольги княгини; Слуды Игоревъ, нети Игоревъ; Улѣбъ Володиславль ; Каницаръ Передъславинъ; Шихъбернъ Сфанъдръ, жены Улѣблѣ; Прасьтѣнъ Туръдуви; Либиаръ Фастовъ; Гримъ Сфирьковъ; Прасьтѣнъ Акунъ, нети Игоревъ; Кары Тудковъ; Каршевъ Туръдовъ; Егри Евлиековъ; Воистъ Воиковъ; Истръ Аминодовъ; Прастѣнъ Берновъ; Явтигъ Гунаревъ ... [es folgen noch 39 Personennamen].
Bedenkt man, daß auch die Namen Igor (Ingvar), Olga (Helga) skandinavisch sind, so wird man den Anteil eindeutig slavischer Namen in dieser Liste kaum überschätzen können. Bezeichnenderweise tragen auch die nächsten Verwandten (нети ,Neffe’) des Großkunings, Ivor, Sludy und Prastěnъ Akunъ (= Hakon) offensichtlich germanische Namen. Und diese historisch nicht unwichtige Tatsache sollte in der Lesebuchausgabe den Studenten verschwiegen werden, weil sich, nach den Worten des Chronisten, diese Vuefast, Sfandr, Akun, Iggivlad, Roald, Gunastr, Turbern, Svěn als „wir vom russischen Geschlecht“ bezeichnen. Keine noch so „gutgemeinte“ Manipulation von Texten kann diese Tatsachen aus der Welt schaffen.
1.4. Zu den beliebten Topoi bei der Behandlung der sprachlichen und kulturellen Verhältnisse in der Kiever Rus’ zählte auch die immer wieder auf gestellte Behauptung, die gesamte kulturelle Entwicklung der Ostslaven („Russen“) sei völlig „eigenständig“ verlaufen, die Bewohner des Kiever Staates hätten mit dem „Westen“ oder mit Byzanz kaum kulturelle, geschweige denn sprachliche Kontakte gepflegt. B. O. Unbegaun hat diese unverständliche und völlig ahistorische Haltung wiederholt kritisiert (1951, 1961, 1964, 1965, 1967, 1970a, 1970b). Gerade der Kiever Staat war nach allen Seiten offen, das Herrschergeschlecht hatte weitverzweigte Familienbeziehungen mit den Herrscherhäusern in England, in Frankreich, in Skandinavien, in Byzanz, in Ungarn, in Polen. Griechische Kirchenbauer und Ikonenmaler brachten die byzantinische Kunst nach Kiev, das im Norden des Landes gelegene Novgorod hatte rege Kontakte nicht nur zu Skandinavien, sondern auch zu den Städten der Hanse. Das immer wiederkehrende Motiv der „Eigenständigkeit“
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der kulturellen Entwicklung wirkt eher wie eine Beschwörungsformel.
Selbst führende Literaturhistoriker stimmten in den allgemeinen Hymnus zum Lobe der „eigenständigen Entstehung der ostslavischen Literatur“ ein. D. S. Lichačev ein angesehener Fachmann auf dem Gebiete der älteren Literatur, verfaßte mehrere Abhandlungen, in denen er — wohl gegen besseres Wissen — die als „patriotisch“ geltenden Thesen von der weitgehenden Originalität der „altrussischen“ Literatur verfocht (1951a, 1951b, 1952).
In einer Studie über die Entstehung der russischen Literatur schrieb Lichačev:
„Die Anfänge der russischen Literatur gehen in die vorfeudalistische Periode der Geschichte der Rus’ zurück. Ihr ungemein schnelles Wachstum verdankt die russische Literatur des 11.—12. Jh. jenem hohen Niveau der mündlichen russischen Sprache, auf dem sie sich befand, als das mit der Christianisierung zusammenhängende Schrifttum sich zu verbreiten begann. Es zeigte sich, daß die russische Sprache fähig war, alle Feinheiten des abstrakten Denkens auszudrücken, die raffinierte Rednerkunst der kirchlichen Prediger wiederzugeben“ (1951a, 164).
Einem Gelehrten wie Lichačev kann es nicht entgangen sein, daß die „raffinierte Rednerkunst“ der kirchlichen Prediger, wie etwa die des Bischofs Kyrill von Turov, sich durchaus nicht der „russischen“ („vorfeudalistischen“), sondern der kirchenslavischen (altbulgarischen) Sprache bediente.
Es ist heute völlig unverständlich, wie ein Literarhistoriker vom Rang eines Lichačev sich zur Behauptung hatte hinreißen lassen können, die Sprache der Urkunden hätte „literarische, künstlerische und schöpferische“ Elemente enthalten, und zwar „lange bevor auf russischem Boden die ersten Übersetzungen griechischer literarischer und kirchlicher Werke auftauchten“ (1951b, 45). Die erste der Wissenschaft bekannte und datierte ostslavische Urkunde stammt aus der Zeit um 1130, ist also 150 Jahre jünger als die Einführung des Christentums als Staatsreligion in der alten Rus’. Von irgendwelchen „literarischen, künstlerischen und schöpferischen“ Ambitionen kann in einer Schenkungsurkunde natürlich nicht die Rede sein. Dafür ist die Sprache dieser Urkunde, die von einem Enkel einer byzantinischen Prinzessin ausgestellt wurde, ungewöhnlich reich an Gräzismen, was von der Forschung bisher leider kaum beachtet wurde (Issatschenko, 1970 a).
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1.5. Neue Nahrung erhielten die Verfechter der These von der „Eigenständigkeit“ der russischen Sprache und der „russischen Schrift“ (was immer dies heißen mag) durch den Fund eines Tongefäßes in Gnezdovo unweit Smolensk, also im alten Gebiete des Stammes der Kriviči. Auf dem Gefäß war ein Wort in kyrillischen Buchstaben eingeritzt, welches mindestens drei Deutungen zuläßt (Jakobson 1952, 350). Nun konnte man wieder die These aufgreifen, die kyrillische Schrift sei, völlig unabhängig von der griechischen, nicht bei den Balkanslaven geschaffen worden, sondern im ostslavischen („russischen“) Gebiet entstanden. Zu diesen weitreichenden Vermutungen bemerkte B. O. Unbegaun:
«Au dire des trois auteurs [Avdusin, Tichomikov, Černych], les archéologues dateraient l’inscription du premier quart du Xe siècle ; leurs arguments, toutefois, ne sont pas exposés. Cela suffit pourtant à M. Černych pour déclarer non seulement que les Russes du début du Xe siècle étaient lettrés, mais encore qu’à cette époque <l’écriture était courante dans les différentes couches de la société russe> (1950, 309) et que cela ne peut s’expliquer que par une tradition déjà ancienne dans le maniement de cette écriture. Pour partager l’enthousiasme de l’auteur, il nous manque, à la fois, la certitude absolue de la datation et la convinction que, soixante ans avant le baptême, les Kriviči russes aient commencé à se servir de l’écriture religieuse pour en orner une batterie de cuisine» (1951, 182).
1.6. Zu Beginn der fünfziger Jahre wurde die Öffentlichkeit durch eine überaus bemerkenswerte Entdeckung überrascht. Bei systematischen Grabungen im alten Novgorod hatte man Rollen von Birkenrinde gefunden, auf deren Innenseite Texte in kyrillischer Schrift geritzt waren. Es gab nichts Vergleichbares, weder in Skandinavien noch in Mitteleuropa oder auf dem Balkan. Die eingeritzten Texte waren meist kurze persönliche Mitteilungen privater Natur.
Der Duktus der Schriftzeichen, die recht eigenwillige Orthographie, vor allem aber die unbeholfene Ausdrucksweise der meisten dieser Briefe ließen erkennen, daß die Verfasser der Briefe ungebildete Menschen waren, die es gerade soweit gebracht hatten, das Alphabet schlecht und recht zu gebrauchen. Einige dieser Birkenrindenbriefe wurden von den Archäologen mit dem 11. Jahrhundert datiert. Die offenbar älteste Mitteilung enthielt den Namen ГостẠта, der von einigen sowjetischen Philologen als Frauenname gedeutet wurde. Daraus wurde geschlossen, daß die Kenntnis der Schrift unter den Frauen Alt-Novgorods „weit verbreitet“ war (Kuzmin 1952, 140). Sprachlich waren die Texte nicht
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sehr ergiebig. Sie enthielten kaum etwas, was der Wissenschaft aus anderen Quellen nicht bereits bekannt gewesen wäre. Die durchaus verständliche anfängliche Euphorie wich einer allgemeinen Ernüchterung. Das bereits zitierte Lehrbuch Gorškovs (1969) erwähnt die Birkenrindenbriefe nicht mehr. Aber noch 1963 spricht Efimov von einem besonderen „epistolaren Stil“ der „altrussischen Literatursprache“, den er mit den zum Teil völlig unverständlichen Anakoluthen der Novgoroder Birkenrindenbriefe gleichsetzt (1955, 54).
Hier ein Beispiel des „epistolaren Stils“ der „altrussischen Literatursprache“ :
От Миките ко Церту. Цто есмь руцил у Петра на Городищѣ. н(...) Юрги был выдал со двора, н(...) не уведался, а мене выдал, (...)кл еси железного п(.........) рубль взявъ. а ты н(..............) ндръ исправи госп(...........) возми сапозѣ
(Nr. 4, 14. Jh.).
Wenn Lichačev für die älteste Zeit die Fähigkeit der „russischen“ Sprache, „alle Feinheiten des abstrakten Denkens auszudrücken“ mit dem „hohen Niveau der mündlichen russischen Sprache“ in Zusammenhang bringt (1.3.), so kann er wohl kaum Texte wie diesen meinen, obwohl es sich ja um einen der „mündlichen russischen Sprache“ besonders nahen Text handelt. Von „Feinheiten des abstrakten Denkens“ ist hier allerdings wenig zu spüren.
Efimovs „epistolarer Stil“ hängt offenbar mit der grundsätzlichen Einstellung dieses Gelehrten zusammen. Für Efimov ist nämlich alles, was in schriftlicher Form vorliegt, eben „Literatursprache“. Deshalb unterscheidet er schon in der ältesten Periode der „russischen Literatursprache“ folgende „Stile“: 1. den juridischen Stil; 2. den Stil der künstlerischen Erzählung; 3. den chronikalen Stil; 4. den epistolaren Stil, also lauter „Stilgattungen“, die außerhalb der eigentlichen Literatur stehen. Freilich fügt Efimov noch 5. den liturgischen Stil; 6. den hagiographischen Stil und 7. den Stil der Predigten hinzu (1955, 54). Es ist nicht ganz ersichtlich, was Efimov mit „liturgischem Stil“ meinen konnte, denn bekanntlich werden bei der Liturgie stilistisch sehr verschiedenartige Texte verwendet.
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2. Obwohl es in der Slavistik niemals einen Zweifel darüber gegeben hat, daß die ältesten kanonischen Texte, die auf dem Gebiete der Ostslaven gefunden wurden, ferner die Menäen und Homilien, die Gebete und Predigten usw. zu einem Großteil Abschriften aus Bulgarien
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oder Serbien stammender Originale sind, deren Sprache das Altkirchenslavische ist, wird diese Tatsache im letzten Vierteljahrhundert von vielen Autoren entweder schlechthin verneint, oder doch verschleiert.
Man erreicht auch wenig, wenn man das Wort „церковнославянский“ (,kirchenslavisch’) in Anführungszeichen setzt (wie bei Gorškov, 1969, 75). Man kann sich aber schwer des Eindrucks bewußter Manipulation erwehren, wenn der Gebrauch eines eindeutigen Terminus vermieden und dieser durch unscharfe Paraphrasen ersetzt wird. Dementsprechend verwenden viele Autoren statt „kirchenslavisch“ oder „altslawisch“ die „harmloseren“ Ausdrücke „Buchsprache“ (книжный язык), „kirchliche Buchsprache“ (книжно-церковный язык), „gehobener Buchstil“ (возвышенно-книжный стиль), „buchmäßig-slavischer Sprachtyp“ (книжнославянский языковой тип) u. ä.
Statt bestimmte Formen als kirchenslavische (altslavische) Elemente zu bezeichnen, zieht es z. B. Kuznecov vor, durch verschwommene Formulierungen den Sachverhalt zu verschleiern :
,Die russischen Formen mit i wie вои́нственный, таи́нственный sind wahrscheinlich (!) buchmäßiger Herkunft’ (1963, 105).
Kuznecov ist als Vollslavist ausgewiesen. Er kennt die elementaren Lautgesetze. Es kann für ihn kein Zweifel bestehen, daß die genannten Formen kirchenslavisch sind. Wozu also das „wahrscheinlich“ und das „buchmäßig“ ?
Die moderne russische Hochsprache besitzt Tausende kirchenslavischer Elemente (Wörter, Morpheme, Konstruktionen). Sie sind in die russische Sprache aus dem Kirchenslavischen entlehnt, wie etwa die Wörter transkribieren, monumental oder Status im Deutschen aus dem Lateinischen entlehnt sind. Das Verb ,entlehnen’ wird geflissentlich im Zusammenhang mit kirchenslavischen Elementen vermieden.
2.2. Offenbar unter dem Einfluß der herrschenden Sprachregelung konnte selbst der führende sowjetische Russist V. V. Vinogradov den wirklichen Sachverhalt nicht tatsachengetreu schildern. Es kann keinen Augenblick bezweifelt werden, daß Vinogradov, der sein Studium an der Geistlichen Akademie begonnen hatte, das Kirchenslavische ausgezeichnet beherrschte. Seine zahlreichen philologischen und sprachgeschichtlichen Arbeiten bestätigen es. Doch 1958 veröffentlichte Vinogradov als Beitrag zum ersten Slavistenkongreß der Nachkriegszeit eine Broschüre, in der er die These auf stellte, die „altrussische Literatursprache“ sei durch „zwei Typen“ vertreten: durch einen „buchmäßig-slavischen
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Typ im ostslavischen Gewände“ und einen „ volkstümlichen-literarischen“ (народно-литературный) (1958, 60). Diese These hat kaum zur Klärung des Sachverhaltes beigetragen. Vinogradov schrieb :
„In ihren polarisierten (контрастных), ,reinsten’ Konzentraten (концентрациях) waren es vom genetischen Standpunkt zwei verschiedene ‚Sprachen’ [man beachte die Anführungszeichen!], doch nachdem sie in der Folge zu zwei verschiedenen Typen der altrussischen Literatursprache geworden waren, traten der buchmäßigslavische Typ im ostslavischen Gewände und der volkstümlichliterarische ostslavische Typ in ein kompliziertes und mannigfaches gegenseitiges Verhältnis, beeinflußten sich gegenseitig im Kreise der verschiedenen Gattungen der altrussischen Literatur“ (1958, 60).
Vinogradov muß natürlich einräumen, daß es sich um zwei verschiedene Sprachen (ohne Anführungszeichen) handelt; er ist außerstande anzugeben, wann und auf welche Weise diese beiden Sprachen zu „Typen“ einer Literatursprache geworden waren. Unter der Feder unkundiger Mönche konnte das „reine“ Kirchenslavisch weitgehend korrumpiert werden. Andererseits ist nicht ganz klar, was denn unter dem sogenannten „volkstümlich-literarischen“ Stil zu verstehen ist, welche „Gattungen“ oder Werke in diesem Stil verfaßt wurden. Vinogradov selbst warnt davor, seine „Sprachtypen“ mit „verschiedenen Stilarten“ gleichzusetzen (ib., 37—38).
2.3. In der obengenannten Schrift setzte sich Vinogradov auch mit Issatschenkos Definition der Literatursprache (siehe 0.2.) auseinander. Vinogradov anerkennt, daß keine der in der alten Rus’ geschriebenen Sprachen alle in 0.2. aufgezählten Merkmale (Polyvalenz, Normierung, allgemeine Verbindlichkeit, stilistische Differenzierung) besaß, wirft dem Autor dieser Zeilen jedoch vor, er hätte bei der Charakteristik der modernen Literatursprachen nicht gezeigt, „wie sie entstanden und wann sie endgültige Gestalt annahmen (определились)“ (ib. 27).
Dieser Vorwurf geht am eigentlichen Thema vorbei, denn hier handelt es sich nicht um den Prozeß der Entstehung von „Literatursprachen“, sondern vielmehr um die Frage, ob der Ausdruck „altrussische Literatursprache“ linguistisch und historisch überhaupt gerechtfertigt ist. Zudem hatte ich ganz eindeutig gesagt, daß der Begriff „Literatursprache“ (in dem von mir definierten Sinn) nur für die „Nationalsprache“ zutrifft, wobei ich von der für Vinogradov sicherlich
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bekannten marxistischen Lehre von der Entstehung moderner Nationen ausging. Auch hatte ich keinen Zweifel darüber gelassen, daß von einer modernen russischen Literatursprache eben erst seit der Nationwerdung, also seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die Rede sein kann; vgl. auch Issatschenko, 1974, 253 ff.
Auch andere Verfechter der „altrussischen Literatursprache“ polemisierten gegen meine These. So meint Gorškov, es sei „äußerst paradox und ahistorisch“ zu behaupten, es hätte „bei Vorhandensein einer altrussischen Literatur“ keine altrussische Literatursprache gegeben (1969, 8). Ähnlich äußert sich neuerdings auch Filin:
,eine [altrussische] Literatur gab es, aber eine [altrussische] Literatursprache gab es nicht — solche Paradoxa kann man kaum ernst nehmen’ (1974, 8).
Nun ist ja die Existenz einer „altrussischen“ Literatur durchaus nicht φύσει, sondern lediglich θέσει gegeben. Aus Bequemlichkeit bezeichnet man eben die Literatur der Ostslaven im 11. bis 14. Jahrhundert als „altrussisch“. Der Terminus „altrussische Literatur“, in der Tradition übrigens tief verankert, ist ja seinerseits ein Paradoxon: im 11. Jahrhundert gab es wohl Ostslaven, aber keine „Altrussen“. Das Wort „Altrussen“ ist erst in allerjüngster Zeit von L. P. Žukovskaja eingeführt worden (1972, 75). Der Versuch, aus einem rein sprachgeschichtlichen Terminus ein Pseudo-Ethnonym ableiten zu wollen, ist ebenso absurd wie etwa der Versuch, das Volk der ,Althochdeutschen’ oder der ,Mittelhochdeutschen’ zu erfinden. Die древнерусская литература ist ganz bestimmt nicht die Literatur der nichtexistenten „Altrussen“, sondern vielmehr die Literatur der древняя Русь, der „alten Rus’“. Ignoriert oder verwischt man diese Zusammenhänge, so stellen sich unweigerlich neue schwerwiegende Mißverständnisse ein. Die Literatur der „alten Rus’“ (11. bis 13. Jahrhundert) gehört ja nicht den Russen allein, sondern auch den Ukrainern, so daß man dann mit der gleichen Berechtigung (oder ebenso anachronistisch) statt von einer „altrussischen“, von einer „altukrainischen“ Literatur sprechen dürfte.
Aber auch wenn man die Existenz einer „altrussischen Literatur“ anerkennt, ist es durchaus nicht paradox, zugleich die Existenz einer „altrussischen Literatursprache“ zu leugnen: es gibt eine Sowjetliteratur, ohne daß es deshalb gleich eine „sowjetische Literatursprache“ geben müßte.
Das, was im Mittelalter eben als „Literatur“ bezeichnet wird, wurde bei den Vorfahren der heutigen Russen und Ukrainer von Anfang an
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nicht in „altrussischer“, „altukrainischer“ (oder gar „altweißrussischer“) Sprache, sondern in kirchenslavischer Sprache geschrieben. Wenn man will, kann man eine Sprachregelung treffen, wonach künftighin „kirchenslavisch“ als „altrussisch“ zu lesen ist. Der wissenschaftliche Wert einer solchen Konvention ist allerdings fraglich.
Zusammenfassend kann gesagt werden, daß es in der alten Rus’ eine Literatur gab, die man (ohne die Geschichte allzu sehr zu verfälschen) als „ostslavische Literatur“ bezeichnen darf. Nur wurde diese Literatur keineswegs in „Altrussisch“, sondern in einem mehr oder weniger korrekten Kirchenslavisch geschrieben.
2.4. Man kann nämlich beim besten Willen nicht leugnen, daß die Sprache der orthodoxen Kirche und der mit dem geistigen Leben zusammenhängenden Texte in der alten Rus’ nicht „russisch“, sondern eben (alt)kirchenslavisch war. Ein immer wiederkehrendes Motiv bei der Behandlung dieser Sprache in der UdSSR ist der Mythos von der „großen Ähnlichkeit“ des Altkirchenslavischen mit dem Ostslavischen. Im 10. Jahrhundert seien die einzelnen slavischen Idiome noch kaum differenziert, der Grundwortschatz, die Morphologie, die Wortbildung und die Syntax im wesentlichen identisch gewesen. Daraus müsse man schließen, das Kirchenslavische sei für die Ostslaven nicht nur völlig verständlich gewesen, sondern von ihnen als ihre ureigenste Sprache aufgefaßt worden.
Gorškov schreibt wörtlich :
„In der Epoche des Kiever Staates [. . .] waren die Unterschiede in der Struktur nicht nur zwischen der russischen Umgangs- und der russischen Literatursprache, sondern auch zwischen dem Russischen und dem Altkirchenslavischen äußerst unbedeutend“ (весьма незначительными) (1969, 99, gesperrt von А. I.).
Gorškov versichert immer wieder, es hätte nur „wenige“ Unterschiede gegeben, wobei etwa lautliche Abweichungen bei weitem nicht bei allen, sondern lediglich bei „einigen Wörtern“ auftraten (ib., 33 und passim). „Die altslavischen Elemente waren“, so Gorskov, „für die altrussischen Schriftsteller keineswegs Merkmale des ,hohen Stils’ der Literatursprache (einen solchen Stil gab es zu jener Zeit nicht), sondern sie gehörten der Buchbzw. der Literatursprache als solcher an, und zwar im Gegensatz zur gesprochenen Sprache“ (1969, 43).
Diese und ähnliche Behauptungen müssen als Halbwahrheiten gewertet werden. Es wäre müßig, den nahen Verwandtschaftsgrad der
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slavischen Idiome im 10. Jahrhundert und auch noch in der folgenden Zeit zu bestreiten. Doch im Falle der ostslavischen lingua vernacula und des Altkirchenslavischen geht es ja gar nicht um zwei vergleichbare Größen. Das Besondere am Altkirchenslavischen ist gerade die Tatsache, daß diese Sprache niemals und nirgends als natürliche Verkehrssprache eines Ethnikums gesprochen wurde. Von allem Anfang an war das Altkirchenslavisehe eine sakrale und eine künstliche Sprache. Es war keine leichte Aufgabe, das Neue Testament in ein bis dahin in schriftlicher Form nicht verwendetes „barbarisches“ Idiom zu fassen. Kyrill, sein Bruder Method und beider Mitarbeiter entledigten sich meisterhaft dieser überaus schwierigen Aufgabe. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß das Kirchenslavische ein in altbulgarische Morpheme travestiertes Griechisch darstellt. Mit der hochentwickelten theologisch-philosophischen Terminologie des byzantinischen Christentums konnten die Übersetzer nur so fertig werden, daß sie alle wortbildenden Mittel der lingua vernacula mobilisierten und durch Lehnübersetzungen die abstraktesten griechischen Begriffe Wiedergaben, die doch nur demjenigen verständlich sein konnten, der das Griechische wirklich beherrschte und theologisch gebildet war. Ohne gründliche katechetische Vorbildung mußten Wörter wie грѣхъ, доухъ, отьць in ihrer spezifisch christlichen Bedeutung mißverstanden werden. Erst der christliche Kontext bewirkt die spezifischen Bedeutungsverschiebungen ‚Fehler’ -> ‚Sünde’ (vgl. ἁμαρτία), ,Atem’ -> ,Geist’ (vgl. πνεῦμα), ,Vater’ -> ‚Gott Vater’ usw.
Das Charakteristische an jeder Sakralsprache ist ja gerade der Umstand, daß sie — trotz oberflächlicher Ähnlichkeit mit der Alltagssprache — dem Laien unverständlich ist und vielleicht auch unverständlich bleiben soll. Nehmen wir einen Auszug aus der Liturgie als Beispiel.
Достойно есть ı-ако въ истиноу блажити тẠ, Богородице, присно блаженьноую и прѣнепорочьноую и Матерь Бога нашего. Чьстьнѣишоую хероувимъ и славьнѣишоую без съравнению серафимъ, без истлѣньı-а Бога Слова рождьшоую, соущоую Богородицоу тẠ величаемъ ...
(russisch kirchenslavisch).
Auch der gebildete Russe der älteren Generation, der diesen Text seit seiner Jugend unzähliche Male beim Gottesdienst gehört haben mag, wird zugeben müssen, das er außerstande ist, ihn genau zu übersetzen. Um wieviel schwerer war es dem einfachen Mann im Mittelalter, diesen und andere Texte aus der Liturgie, dem Psalter, dem Evangelium, der
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Apostelgeschichte, ja selbst den Text des Vaterunser oder des Credo auch nur annähernd zu „verstehen“. Gerade diese semantische Entrücktheit sakraler Texte, begleitet von formaler Entrücktheit (die meisten Texte werden nicht gesprochen, sondern gesungen), macht jene „dignitas“ aus, die eine sakrale Hochsprache vom Hintergrund der alltäglichen Sprache grundsätzlich abhebt. Deshalb muß man mit aller Entschiedenheit der weit verbreiteten Mythenbildung über die angebliche „Ähnlichkeit“ der aksl. Sakralund der autochthonen Umgangssprache entgegentreten. Der Unterschied war ja auch dadurch gegeben, daß die Inhalte (messages), die man in der einen oder der anderen Sprache ausdrückte, völlig verschiedenen waren und sich nicht überschneidenden Bereichen entstammten.
2.5. Eine besondere Sprachregelung scheint bei manchen Autoren auch für die Kennzeichnung des Verhältnisses zwischen dem Altkirchenslavischen und dem Griechischen zu gelten. Man spricht lediglich von einem „starken Einfluß“ des Griechischen auf das Altkirchenslavische, als wäre dieses letztere nicht eine beinahe lückenlose Eins-zu-Eins-Umsetzung aus dem Griechischen. F. P. Filin schreibt dazu :
„Die Schaffung des altslavischen Schrifttums durch Kyrill und Method führte zu einer mächtigen Einwirkung des byzantinischen Wortschatzes, der der slavischen Volkssprache gänzlich fremd war, auf das Altslavische“ (1974, 11).
Man will nicht zur Kenntnis nehmen, daß die „Schaffung des altslavischen Schrifttums“ nur als eine überaus einfühlsame Nachvollziehung griechischer Texte sowohl im Bereich der gesamten Syntax, als auch im Bereich des gesamten Wortschatzes war. Die für das Altkirchenslavische so charakteristischen Lehnübersetzungen, die das Gros der unzähligen Neologismen ausmachen (Typ благословити — εὐλογεῖν), werden geflissentlich verschwiegen.
(Die ostslavisch-kirchenslavische Diglossie)
3. Es ist durchaus einleuchtend, daß die im bulgarisch-mazedonischen Raum entstandene und nach Osteuropa verpflanzte Kultund Sakralsprache einem gewissen Einfluß seitens des Ostslavischen ausgesetzt war. Der Einfluß des lokalen Idioms äußerte sich natürlich in erster Linie auf der Ebene des Lautlichen und in der Formenlehre. Laute und Lautverbindungen des Altkirchenslavischen wurden durch etymologisch entsprechende ostslavische Laute ersetzt. So gab es im Ostslavischen keine Nasalverbindungen mehr. Deshalb konnte etwa aksl. рѫка ,Hand, Arm’ durch ostsl. роука ersetzt werden. Die aksl. Endung der
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3. Sg und Pl des Präsens -тъ wurde durch die im Ostsl. übliche Endung -ть ersetzt usw. So entstand jene Sprache, die „Russisch-Kirchenslavisch“ genannt wird.
Der „Grad der Beeinflussung des ksl. Textes durch das Ostslavische“ ist häufig einfach vom Bildungsgrad des Kopisten oder des Verfassers abhängig. Es ist anzunehmen, daß ein Bischof (etwa der Bischof Kyrill von Turov) das Griechische und damit auch das Ksl. unvergleichlich gründlicher beherrschte als etwa ein Diakon oder ein einfacher Mönch. Zieht man diesen Gesichtspunkt in Betracht, so wird ein Großteil dessen, was man bei manchen (oft anonymen) Autoren oder Schreibern der alten Rus’ als individuelle Vorliebe für ostslav. Formen oder Wörter deutet, in Wirklichkeit der ungenügenden Ausbildung und Ignoranz der betreffenden Person zugeschrieben werden müssen. Trotz der geringfügigen Zugeständnisse an den ostslavischen Lautund Formenstand blieb die größtmögliche Annäherung an das südslavische Original nach wie vor das Ideal, und dieses Ideal wurde zu allen Zeiten nicht nur von vielen angestrebt, sondern immer auch von einigen erreicht.
3.1. Am wenigsten anfällig war der Bereich der Syntax, da ja die ausgefeilte und anspruchsvolle, dem Griechischen getreu nachgebildete Ausdrucksweise (Wortstellung, Partizipial- und Infinitivkonstruktionen, Hypotaxe) von seiten der primitiven Syntax der lingua vernacula kaum beeinflußt werden konnte.
Die Grenzen, die der Beeinflussung der Hochsprache durch die Umgangssprache gesetzt waren, lassen erkennen, daß es zu keinem Zeitpunkt und in keinem ostslav. Gebiet je zu einer Verwechslung dieser beiden Sprachen gekommen war. Wäre die „Ähnlichkeit“ der beiden Idiome wirklich so auffallend gewesen, wie es uns manche Autoren glauben machen wollen, so hätte sich das Kirchenslavische als selbständiges Sprachsystem nicht bis ins 20. Jahrhundert hinein halten können. Es wäre im Ostslavischen aufgegangen. Unverständlich sind deshalb Beteuerungen wie diese :
„Doch die wesentlichste Folge der gegenseitigen Beeinflussung der altrussischen und der altslavischen Sprache war nicht die Entlehnung einer Anzahl (und sei es auch einer sehr großen Anzahl) von Wörtern und Ausdrucksmitteln, sondern die Bildung [. . .] „eigener“, russischer Gewohnheiten und Begeln auf dem Gebiete der Bechtschreibung, des grammatischen Systems, des Wortschatzes und der Phonologie. Es ist wichtig zu unterstreichen, daß es sich hier nicht um mechanische Entlehnung dieser Gewohnheiten und
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Regeln aus dem Altslavischen handelt, sondern um die Bildung eigenständiger, origineller nationaler (национально-своеобразных) Gewohnheiten und Regeln der altrussischen Literatursprache“ (Gorškov 1969, 43).
Zwei Dinge fallen bei der Lektüre dieses apologetisch anmutenden Textes auf. Zum einen soll der Eindruck erweckt werden, als hätte eine „altrussische Literatursprache“ eine Anzahl von Elementen aus dem Altslavischen „entlehnt“, wo doch diese Literatursprache in Wirklichkeit nichts anderes als das „Altslavische“ selbst war, zum zweiten wird lokalen Schreibkonventionen eine ihnen nicht zukommende Bedeutung beigemessen, denn diese Schreibkonventionen wurden im 14. Jahrhundert grundlegend geändert, ohne daß das Wesen der Sprache davon betroffen gewesen wäre. Was aber den geschichtsphilosophisch geschulten Leser an dieser Tirade vor allem verwundern sollte, ist die Verwendung des Attributs „national“ in bezug auf orthographische sprachliche Erscheinungen des Mittelalters. Lenin sagt ausdrücklich, daß die Bildung eines gesamtrussischen Marktes erst im 17. Jahrhundert erfolgte und damit erst die Voraussetzungen für die Bildung einer russischen Nation gegeben erschienen (Gesammelte Werke, Bd. 25, 258/59, russische Ausgabe). Der Ansatz „nationaler“ Gesichtspunkte im feudalen Hochmittelalter kann jedenfalls nur als grober Antihistorismus gewertet werden, obwohl er hier vielleicht von vielen als verzeihlich angesehen wird, da er ja die Bildung durchaus wünschenswerter Mythen stützt.
3.2. Bedenklich wird die Behandlung der ältesten Periode des Schrifttums bei den Ostslaven aber dann, wenn über alle Argumente hinweg und unter souveräner Mißachtung wohlbekannter Tatsachen Behauptungen im Sinne von ipse dixit auf gestellt werden.
So wiederholt sich z. B. bei Gorškov folgendes Motiv:
„Die elementare Logik legt es nahe, daß alles, was im 11.—12. Jh. in der Rus’ übersetzt und geschrieben wurde, in russischer Sprache geschrieben war, der Muttersprache (родном языке) der Autoren und Übersetzer. In diesem Sinne konnte die altrussische Literatursprache nur eine Grundlage haben, und sie hat auch nur eine russische Grundlage“ (1969, 38).
Und an einer anderen Stelle (im Zusammenhang mit dem 11. und 12. Jahrhundert) :
„Die russischen Buchgelehrten (книжники) schrieben, wie schon gesagt, russisch“ (41).
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Eine solche Behauptung läßt sich durch keinerlei der Wissenschaft bekannte und überprüfbare Argumente stützen. Das hier zitierte Diktum Gorškov hat annähernd den gleichen Wahrheitswert wie die Behauptung, der Bischof Ulfila hätte das Evangelium „ins Deutsche“ übersetzt.
Apodiktische Behauptungen, wie die eben zitierte, sind auch in jüngster Zeit keine Seltenheit. In einem Grundsatzartikel der Zeitschrift Voprosy jazykoznanija führt F. P. Filin ohne Kommentar die Ansichten L. P. Žukovskajas an, die diese in derselben Zeitschrift ausgesprochen hatte (1972, 5, 67). Filin schreibt:
„Ihrer (Žukovskajas) Meinung nach existierten in der Anfangsperiode des altrussischen Schrifttums faktisch noch keine slavischen Sprachen, deshalb kann man mit Bestimmtheit (с уверенностью) vom russischen Ursprung der russischen Literatursprache reden. Die Sprache des Ostromir und des Mstislav-Evangeliums (1057 bzw. 1115) ist die russische Volkssprache (народный русский язык), nur [ist sie] in der kultisch-religiösen Sphäre verwendet“ (1974, 3, 10).
Antoine Meillet hatte anläßlich der Besprechung einer Arbeit des sowjetischen Sprachforschers Marr einmal geschrieben: „Die Wissenschaft lebt von Argumenten, nicht von Wahrheiten.“ (Diese Worte des großen französischen Sprachforschers sollte man nicht vergessen.)
3.3. Schließlich soll noch ein beliebter Topos erwähnt werden, den man in der sowjetischen Literatur über die Rolle des Kirchenslavischen im ältesten Schrifttum der Ostslaven finden kann.
Das Altkirchenslavische wurde, wie wir mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit annehmen können, zunächst für die Bedürfnisse der mährischen Fürsten Rastislav und Sventopulk geschaffen. Nach der Vertreibung des slavischen Klerus aus Mähren faßte die Sprache bei den inzwischen zum Christentum bekehrten Bulgaren und Serben gegen Ende des 9. Jahrhunderts Fuß. Im 10. Jahrhundert wurde diese Sprache als die offizielle Sprache der neuen Staatsreligion zu den Ostslaven gebracht.
Einige Forscher weisen mit Recht darauf hin, das Aksl. sei eine Art „internationaler Kultursprache“ des Slaventums gewesen (J. Kubz 1958), oder das Aksl. sollte als „gemeinsame Literatursprache der Südslaven und Ostslaven“ angesehen werden (N. I. Tolstoj 1961).
Daraus wird nun geschlossen, die nach Kiev und Novgorod verpflanzte südslavische Sakralsprache sei von den Zeitgenossen gar nicht als „fremd“ empfunden worden. So schreibt Avanesov, das Kirchenslavische
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gehöre „in gleichem Maße allen Süd- und Ostslaven [. . .] und darf nicht der Sprache der alten Ostslaven gegenüber als etwas von Außen übernommenes und Fremdes (чем-то внешним и чужим) angesehen werden“ (1973, 6). Auch wenn es zwischen dem Ostslavischen und dem Altkirchenslavischen Unterschiede gibt, so sind sie „unwesentlich“ (малосущественны); deshalb war das Altslavische in der alten Rus’, wie auch bei den anderen Slaven, die „ihnen eigene angeborene Sprache (был своим, родным языком)“ (ib.).
Ähnliche Gedankengänge finden wir bei L. P. Žukovskaja :
„Für die Altrussen im 11. Jh. war es praktisch unwichtig, daß die Bulgaren, die Serben und die anderen südslavischen Völker (?) eine nahe verwandte Sprache sprachen und die gleichen Bücher gebrauchten. Für die Altrussen war dies (das Aksl., А. I.) ihre ureigenste Literatursprache (их собственный литературный язык)“ (1972 75).
Hier wäre es aber doch vielleicht an der Zeit, unseren Bericht über die eher zum Reich der Mythen zählenden Ansichten abzubrechen und die linguistischen Tatsachen sprechen zu lassen.
(Eine kontrastive Skizze des Kirchenslavischen und des Ostslavischen)
4. Die eindeutig als Ksl. erkannten Merkmale älterer ostslavischer Texte sind zur Genüge bekannt. Sie können, soweit es sich um phonetische und morphologische Merkmale handelt, in jedem Lehrbuch gefunden werden. Bezeichnenderweise schrumpft die Zahl der angeführten Merkmale bei Gorskov, wo nur noch sieben phonetische und etwa doppelt soviel morphologische Merkmale angeführt werden (1969, 33—34). Unerwähnt bleiben so wichtige phonetische Merkmale, wie die Reflexe von *sk’, *zg’, die aksl. Reflexe von *s + č (-št) und *z + ž (-> žd, vgl. etwa iz-žiti ,ausgeben, durchbringen’ -> aksl. ižditi, vgl. auch 4.2.2.4., die unterschiedliche Aussprache des Buchstaben щ (= [št] im Aksl., [š’č’] im Ostslav.), die im Ostslavischen unbekannten Palatalisierungen von Konsonantengruppen, vgl. aksl. оумрьтвити - оумрьщвл̑енъ, поострити - поощр̑енъ usw., in der Morphologie fehlt der Hinweis auf die nur im Kirchenslavischen vorliegenden Partizipformen wie съгъбеън (russ. согнут), оубьенъ (russ. убит), оусъпенъ, um nur das Allerwichtigste zu nennen.
4.1. Über die syntaktischen Unterschiede sagt Gorškov, daß sie sich „sehr schwach abzeichnen (вырисовываются очень слабо)“ (1969, 34). Wir wollen an Hand eines Textes, der dem Ostromir-Evangelium (1056/57) entnommen ist (L. 15:11—17) nachprüfen, ob die syntaktischen und lexikalischen „Unterschiede“ zwischen der sakralen Hochspräche
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und dem, was wir über die Umgangssprache der Ostslaven wissen, wirklich so „schwach ausgeprägt“ waren:
11 Чловѣкъ нѣкыи имѣ дъва сына; 12 и рече мьнии сынъ
ἄνθρωπός τις εἶχεν δύο υἱοὺς. καὶ εἶπεν ὁ νεώτερος
ѥю отьцоу: отьче, даждь ми достоинѫ чẠсть имѣниı-а,
αὐτῶν τῷ πατρί· πάτερ, δός μοι τὸ ἐπιβάλλον μέρος τῆς οὐσίας.
13 И раздѣли има имѣниѥ. И не по мънозѣхъ дьньхъ,
(ὁ δὲ) διεῖλεν αὐτοῖς τὸν βίον. καὶ μετ’ οὐ πολλὰς ἡμέρας
събьравъ вьсе, мьнии сынъ отиде на странѫ далече
συναγαγὼν πάντα ὁ νεώτερος υἱὸς ἀπεδήμησεν εἰς χώραν μακράν,
и тоу расточи имѣниѥ своѥ живы блѫдьно. 14 Иждивъшоу
καὶ ἐκεῖ διεσκόρπισεν τὴν οὐσίαν αὐτοῦ ζῶν ἀσώτως. δαπανήσαντος
же ѥмоу (dat. abs.) вьса, быстъ гладъ крѣпъкъ на
δὲ αὐτοῦ πάντα ἐγένετο λιμὸς ἰσχυρὰ κατὰ
странѣ тои и тъ начẠтъ лишати сẠ. 15 И шьдъ
τὴν χώραν ἐκείνην, καὶ αὐτὸς ἤρξατο ὑστερεῖσθαι. καὶ πορευδεὶς
прилѣпи сẠ ѥдиномь отъ житель тоı-Ạ страны; и
ἐκολλήθη ἑνὶ τῶν πολιτῶν τῆς χῶρας ἐκείνης, καὶ
посъла и на села свою, пастъ свинии. 16 И желааше
ἔπεμψεν αὐτὸν εἰς τοὺς ἀγροὺς αὐτοῦ βόσκειν χοίρους· καὶ ἐπεθύμει
насытити чркво своѥ отъ рожьць, юже ѣдѣахѫ свиниı-Ạ,
χορτασθῆναι ἐκ τῶν κερατίων ὧν ἤσθιον οἱ χοῖροι,
и никътоже не даı-ааше ѥмоу. 17 Въ себе же пришьдъ, рече:
καὶ οὐδεὶίς ἐδίδου αὐτῷ. εἰς ἑαυτὸν δὲ ἐλθὼν ἔφη·
коликоу наимьникъ отьца моѥго избываѭтъ хлѣби, азъ же
πόσοι μίσθιοι τοῦ πατρός μου περισσεύουσιν ἄρτων, ἐγὼ δὲ
сьде гладъмь гыбнѫ.
λιμῷ ὧδε ἀπόλλυμαι.
11 Ein Mann hatte zwei Söhne. 12 Der jüngere sagte zu seinem Vater: Vater, gib mir das Erbteil, das mir zusteht. 13 Da teilte der Vater das Vermögen auf. Nach wenigen Tagen packte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land. Dort lebte er in Saus und Braus und verschleuderte sein Vermögen. 14 Als er alles durchgebracht hatte, kam eine große Hungersnot über das Land, und es ging ihm sehr schlecht [= ,er begann zu darben’]. 15 Da ging er zu einem Bürger des Landes und drängte sich ihm auf; der schickte ihn aufs Feld zum Schweinehüten. 16 Er hätte gern seinen Hunger
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mit den Futterschoten gestillt, die die Schweine fraßen, aber niemand gab ihm davon. 17 Da begann er nachzudenken und sagte : Wie viele Taglöhner meines Vaters haben mehr als genug zu essen und ich komme hier vor Hunger um.
(Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Das Neue Testament, Stuttgart 1973, 153.)
4.2. In den folgenden Abschnitten werden Konstruktionen des Altkirchenslavischen besprochen, die sich nur als syntaktische Gräzismen deuten, das heißt weder im Ostslavischen noch in irgendeiner anderen historischen belegten slavischen Sprache nachweisen lassen. Die Beispiele sind zum Teil dem oben angeführten Text entnommen.
4.2.1. Grundsätzlich wird die griechische Wortstellung beibehalten. Eine Ausnahme bilden nur die Enklitika, die strikten inner-slavischen Wortstellungsregeln folgen.
In keiner slavischen Sprache ist die Wortfolge ,Nomen + Indefinitpronomen’ normal; die Fügung 11чловѣкъ нѣкыи ,(irgend)ein Mann’ entspricht dem gr. ἄνθρωπός τις, wo das Indefinitpronomen regelmäßig enklitisch gebraucht wird.
Völlig unslavisch ist die Wortstellung etwa auch im folgenden Satz : чловѣкъ етеръ бѣ богатъ ,es war ein reicher Mann’ (L. 16:1). Die Wortstellung ist eine sklavische Nachahmung des Griechischen: ἄνθρωπός τις ἦν πλούσιος.
Die Nachstellung der Possessivpronomina (отьче нашь ,Vater unser’, сынъ мои ,mein Sohn’) gibt die griechische Wortstellung wieder: πάτερ ἡμῶν, υἱός μου.
Die typische Wortfolge ,Nomen + Possessiv + Adjektiv’ (отьць вашь небесьскыи ,euer himmlischer Vater’) ist griechisch: πατὴρ ὑμῶν ὅ οὐράνιος.
Die Nachstellung der Relationsadjektive (цѣсар̑ь июдѣискъ ,der König der Juden’) ist durch die griechische Konstruktion mit dem nachgestellten Genitiv bedingt: βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων. Die Beibehaltung der Wortfolge bei Übersetzungen der Evangelien hat auch eine theologische Erklärung: der hl. Augustin schreibt, selbst die Wortstellung sei ein Mysterium (Ep. XV).
4.2.2. Für den oft recht anspruchsvollen Satzbau des Altkirchenslavischen ist die überaus häufige Verwendung von Partizipien charakteristisch. Dabei darf nicht übersehen werden, daß in der gesprochenen Sprache Partizipien nur ganz selten und meist nur in stehenden Wendungen auftreten. Die Partizipialkonstruktionen des Altkirchenslavischen gehen also, wie unschwer gezeigt werden kann, auf die griechische Vorlage zurück (vgl. Večerka 1961, Růžička 1963).
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4.2.2.1. Die Konstruktion ,Partizip + finites Verb’ ist für das neutestamentliche Griechisch besonders typisch: ἀποκριθεὶς εἶπεν. Solche Konstruktionen werden im Altkirehenslavischen getreu wiedergegeben: отъвѣштавъ рече antwortend sprach er’ (Mt. 15:13 und passim). Unser Textabschnitt enthält eine Reihe solcher Konstruktionen : 13 събьравъ вьсе отиде, 13 расточи ... живы блѫдьно, 15 и шьдъ прилепи сẠ, 17 въ себе же пришьдъ рèче.
4.2.2.2. Adnominale Partizipia sind dem Nomen meist nachgestellte Attribute; die Konstruktion τὸν χόρτον σήμερον ὄντα καὶ αὔριον εἰς κλίβανον βαλλόμενον [wörtlich: ,das Gras heute seiend und morgen in den Ofen geworfen werdend’] erscheint im altkirchenslavischen Gewände als сѣно [. . .] дьньсь сѫщее (PartPraesAkt) а оутрѣ въ огн̑ь въмѣтаемо (PartPraesPass) (Mt. 6:30).
4.2.2.3. Typisch sind ferner nominalisierte Partizipien, vgl. посълавъшааго мẠ worth, ,des mich gesandt habenden’, gr. τοῦ πέμψαντός με (Joh. 9:4). Ebenso бывъшее ,das Gewesene’ (,das, was geschehen ist’) — gr. τὸ γεγονός (L. 8: 56).
4.2.2.4. Der Genitivus absolutus des Griechischen wird im Altkirchenslavischen eigentümlicherweise durch einen Dativus absolutus wiedergegeben. Dabei kennt keine andere lebende oder historisch belegte slavische Sprache eine vergleichbare Konstruktion (Růžička 1961, 1963, 1966; Birnbaum 1968, 1974).
In unserem Text finden wir die Konstruktion 14 иждивъшоу же емоу вьса ,als er alles durchgebracht hatte’.
Der Dativus absolutus bleibt auch in jüngeren Texten ein nicht zu verkennendes Charakteristikum des Kirchenslavischen. Man kann getrost behaupten, daß Passagen der Chronik, in denen sich ein Dativus absolutus findet, eindeutig als kirchenslavisch zu interpretieren sind.
4.2.2.5. Charakteristisch ist die Konstruktion mit ,аще + Aktivpartizip’ in Bedingungssätzen: аще бо съ моудрыими человѣкы бесѣдоующе ,wenn mit weisen Menschen sprechend’ (Izbornik 1076).
4.2.2.6. Partizipien nach Verben der Wahrnehmung (,sehen’, ‚erblicken’, ,hören’ u. ä.) sind im Griechischen durchaus regelmäßig: εἶδεν δύο ἀδελφούς [...] βάλλοντας (PartPräsAkt) ἀμφίβληστρον εἰς τὴν θάλασσαν [wörtlich ,er sah zwei Brüder werfende ihre Netze ins Meer’] (Mt. 4; 18). Das Kirchenslavische ahmt diese Konstruktion nach: видѣ дъва братра [...] втмѣтаѭща мрѣжẠ въ мор̑е. Nichts auch nur annähernd Vergleichbares findet sich im Ostslavischen. Es ist übrigens
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sehr wahrscheinlich, daß die moderne russische Konstruktion я увидел его лежащего (сидящего) ,ich sah ihn liegend (sitzend)’ auf die kirchenslavische Fügung zurückgeht.
4.2.2.7. Periphrastische Verbalformen, die aus dem Hilfsverb ,sein’ und einem Partizip bestehen, sind im Griechischen überaus häufig: ἦν ὁ Ἰωάννης βαπτίζων (PartPräsAkt) ,es war Johannes taufend’. Dieser Konstruktion entspricht im Altkirchenslavischen die in keiner lebenden slawischen Sprache belegte Form бѣ Иоанъ крьстẠ (PartPräsAkt). Ein Beispiel mit einem passivischen Partizip: ἦν ἀγέλη χοίρων πολλῶν βοσκομένη [wörtlich ,es war eine große Herde Säue geweidet werdend’ — aksl. бѣ стадо свинии мъного пасомо (Mt. 8: 30).
4.3. Einen typischen Gräzismus stellt die Konstruktion mit zwei Akkusativen dar, die beide eine Person bezeichnen und von einem intransitiven Verbum abhängen: ὃν (Akk.) λέγετε τὸν βασιλέα (Akk.) τῶν Ἰουδαίων (Mk. 15: 12). Das Altkirchenslavische folgt dieser Konstruktion, wobei es im Ostslavischen nichts Vergleichbares gibt : егоже глагол̑ете цѣсар̑а июдѣиска ,von dem ihr sagt, er sei König der Juden’.
4.4. In Relativsätzen wird im Griechischen die Kopula gewöhnlich ausgelassen (vgl. ὁ ἐν τοῖς οὐρανοῖς, lat. ,qui es in coelis’). Das Altkirchenslavische folgt in den meisten Fällen dem griechischen Vorbild: свѣтъ, иже въ тебѣ ,das Licht, das in dir ist’, вьси, иже съ н̑имь ,alle, die mit ihm sind/waren’.
4.6. Typ omnia mea. Dort, wo das heutige Russisch den Singular der neutralen Pronominalformen verwendet (russ. всё это ,all dies’), wird im Griechischen der Plural des Neutrums gebraucht: πάντα ταῦτα ,all dies’. Das Altkirchenslavische (wie das Lateinische) übernimmt in den meisten Fällen dieses Modell; es heißt dementsprechend вьсı-а моı-а „omnia mea“ ,all meine Habe’. Vgl. auch (ἐπυνθάνετο) τί ἂαν εἴη ταῦτα (Plur.) = чьто оубо си сѫть (Plur.) ‚(fragte), was dies wäre’ (L. 15:26).
4.7. In Konsekutivsätzen verwendet das Griechische ὥστε mit dem Infinitiv: ὥστε θαυμάζειν τὸν Πιλᾶτον ,so daß sich Pilatus wunderte’ (Mk. 15: 5). Diese Konstruktion wird ins Altkirchenslavische übertragen : ı-ако дивити сẠ Пилатови (Dat.). Es kann wohl kaum bezweifelt werden, daß diese Konstruktion den Ostslaven im 11. bis 14. Jahrhundert ebenso unverständlich war, wie sie es einem heutigen Russen ist, der kein Kirchenslavisch getrieben hat.
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4.8. Für das Altkirchenslavische ist die Fülle der unterordnenden Konjunktionen besonders typisch. Die Volkssprache, auch die der Ostslaven, besaß nur ganz wenige unterordnende Konjunktionen und verwendete sie sehr selten. Im Altkirchenslavischen werden dagegen Konditionalsätze, Konsekutivsätze, Temporalsätze, Vergleichssätze, Finalsätze, Kausalsätze usw. durch Konjunktionen wie аще, ı-ако, егда, да, зан̑е, зан̑еже, пон̑еже, оубо u. а. eingeleitet. Diese Konjunktionen entsprechen den griechischen Konjunktionen εἰ, ἐάν, ὡς, ὅτε, ὅταν, ὥσπερ, ὅτι, ὥστε, διὰ τό, ἐπεί usw. Es ist unmöglich, hier auf Einzelheiten einzugehen.
4.9. Hortativ- und Finalsätze werden im Altkirchenslavischen durch die Konjunktion да ,ut, utinam’ eingeleitet : да приидетъ цѣсар̑ьствие твое ,Dein Reich komme’. Diese Konjunktion ist typisch südslavisch und im Ostslavischen völlig unbekannt. Die im heutigen Russisch gebrauchten Wendungen wie да здравствует ,es lebe’ sind Entlehnungen aus dem Kirchenslavischen. Im Ostslavischen wurden in Hortativsätzen andere Konjunktionen gebraucht (siehe 5.4.7.).
4.10. Das Griechische verwendet die Konjunktion ὅτι, um nach einem verbum dicendi die direkte Rede einzuleiten. In den slavischen Sprachen gibt es keine analogen Konstruktionen, doch folgt das Altkirchenslavische auch hier dem griechischen Muster :
онъ же рече емоу ı-ако братъ твои прииде
ὁ δὲ εἶπεν αὐτῷ ὅτι ὁ αδελφός σου ἥκει
der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen (L. 15: 27).
4.11. Für das Altkirchenslavische sind die Relativpronomina иже, ı-аже, ѥже ,welcher’ sowie die Relativadverbia идеже ,wo’, ѥгдаже ,als’, аможе ,wohin’ typisch. Sie werden nach griechischem Vorbild verwendet. Das Ostslavische kennt überhaupt keine vergleichbaren Relativpronomina bzw. -adverbia.
4.12. Das Altkirchenslavische hat eine Serie negativer Pronomina никътоже ,niemand’, ничьтоже ,nichts’, sowie pronominale Negativadverbia никъдеже ,nirgends’, никакоже ,auf keine Weis’4. Dem Ostslavischen sind diese Pronominalformen gänzlich fremd. Zur Frage der syntaktischen Gräzismen im Altkirchenslavischen s. Birnbaum 1974; Jordal 1974.
4.13. Nach diesem kurzen Überblick möge der unvoreingenommene Leser selbst entscheiden, ob die von Levin, Gorškov u. a. Forschern
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immer wieder vertretene These, die (syntaktischen) Unterschiede zwischen dem Kirchenslavischen und dem (gesprochenen) Ostslavischen („Altrussischen“) seien nur „unbedeutend“ oder „zeichnen sich nur sehr schwach ab“, durch sprachliche Tatsachen gestützt werden kann.
4.14. Der in 4.1. angeführte Text ist weder ein theologischer Traktat noch eine philosophische Abhandlung. Es ist ein Gleichnis, in dem eine überaus triviale Begebenheit aus dem täglichen Leben berichtet wird. Trotzdem kann angenommen werden, daß der Inhalt dieser einfachen Erzählung nur demjenigen verständlich war, der durch intensives Studium das Altkirchenslavische aktiv erlernt hatte. Von der Umgangssprache der Ostslaven her war der Text in seinen wesentlichen Teilen unverständlich. Er ist es übrigens auch heute für den gebildeten Russen, der das Kirchenslavische nicht wie eine Fremdsprache studiert hat.
4.14.1. Die Redewendung 12 достоина чẠсть (τὸ ἐπιβάλλον μέρος) in der Bedeutung ,das mir zustehende Erbteil’ kann ohne Kenntnis des Griechischen nicht adäquat interpretiert werden.
Der Gräzismus 13 не по мънозѣхъ дьньхъ (μετ᾿ οὐ πολλὰς ἡμέρας) kann höchstens erraten werden; das Ostslavische hatte keine vergleichbare Wendung.
4.14.2. Die Wendung 17 въ себе же пришьдъ kann nur derjenige richtig deuten, der das gr. εἰς ἑαυτὸν δὲ ἐλθὼν sinngemäß interpretiert.
4.14.3. Wie hätte ein Ostslave den Inhalt des Textes verstehen sollen, wenn ihm gerade die Schlüsselwörter völlig unbekannt waren. Wir erwähnten bereits die Wendung 12 достоина чẠсть (4.14.1.), dazu kommen noch die Verben расточити ,verschwenden’, иждити ,ausgeben, verschwenden’, прилѣпити сẠ ,sich anhängen an, aufdrängen’, избывати ,in Überfluß vorhanden sein, abundare’, die nicht nur von der fremden Sprache her unverständlich waren, sondern als Abstrakta in der eigenen Sprache keine semantischen Äquivalente hatten und haben konnten. Ohne diese Verben konnte man aber den roten Faden des an sich überaus einfachen Berichtes vom verlorenen Sohn nicht verfolgen. Schließlich waren auch die im Text vorkommenden Nomina 16 рожьць ,Futterschoten, Treben’ oder 17 наимьникъ ,Taglöhner’ sowohl als Realia wie auch als lexikalische Einheiten den Ostslaven gänzlich unbekannt.
4.14.4. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn allein enthält noch folgende lexikalische Einheiten, die einem Ostslaven ohne theologische
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Bildung völlig fremd waren: выı-а ,Hals‘, облобызати ,küssen’, облѣцѣте ,kleidet’ (Imperat.), сапогы bedeutete im Aksl. ,Sandalen’ (ὑποδήματα), während das Wort im Ostsl. ,Stiefel’ bedeutete; обрѣте сẠ ,wurde gefunden’, грẠды ,kommend’, слыша ликы (χορῶν) ,Tanz, Reigen’, заповедь ,Befehl’, любодѣица ,Dirne’, тельць питомы ,Mastkalb’, чẠдо ,Kind’, подобааше ,es gehört sich, man soll’. Auch die Wendung и милъ емоу быстъ würde gewiß falsch übersetzt werden: im Aksl. bedeutet sie „und er hatte Mitleid mit ihm“ (ἐσπλαγχνίσθη).
Es ist fraglich, ob man unter diesen Umständen Avanesov beipflichten kann, wenn er behauptet, diese Sprache sei in der alten Rus’ „своим, родным языком“ gewesen (3.3.).
(Zur Charakteristik des Ostslavischen)
5. Alles, was nicht unmittelbar mit der Verbreitung der christlichen Heilslehre zusammenhing, nicht der geistigen Erbauung diente, alles, was also weder zum öffentlichen Vorlesen bzw. Singen beim Gottesdienst noch für die private Lektüre bestimmt war, steht im Mittelalter außerhalb dessen, was man Literatur nennen darf. Alle Schriftstücke, die nicht für die Lektüre bestimmt sind, sondern lediglich rechtliche Sachverhalte für die Zukunft festhalten sollen, haben bei den Ostslaven einen mit den Werken der hohen Literatur nicht vergleichbaren Status. Die „dignitas“ der Hochsprache erlaubt es nicht, praktische, also weltliche, oft triviale Texte in dieser Sprache abzufassen. Die Niederschrift von Gesetzen, die Abfassung von Verträgen, Abkommen, von Schenkungen und Testamenten, der gesamte private Schriftverkehr erfolgt in einer höchst anspruchslosen, nur durch konventionelle Formeln angereicherten Sprache. Diese Sprache besteht fast ausschließlich aus Elementen der gesprochenen Sprache der ostslavischen Bevölkerung und zeigt nur geringe Spuren einer Beeinflussung seitens des Kirchenslavisehen. Sie ist von der kunstvollen, nach griechischem Vorbild stilisierten Hochsprache grundverschieden. Doch sind die rechtlichen Schriftstücke im selben kyrillischen Alphabet geschrieben wie die Kirchenbücher (wenn man davon absieht, daß einige spezifisch altbulgarische Buchstaben, wie etwa die Nasalverbindungen, in der Urkundensprache überhaupt nicht Vorkommen). Vielleicht ist es die Verwendung ein und desselben Alphabets, die manche Forscher veranlaßt, diese Urkundensprache und die Kirchensprache unter ein und demselben Terminus „altrussische Literatursprache“ zusammenzufassen ?
5.1. Natürlich spiegelt die Sprache der Urkunden einen Teil der ostslavischen Realien wider: Währungseinheiten, Maße, Ämter, landwirtschaftliche und handwerkliche Bezeichnungen, die soziale Struktur
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der Bevölkerung — all dies sind Denotate, für die es im Kirchenslavisehen oft keine Entsprechungen gab. Dazu kommt noch, daß wir für die älteste Zeit keinerlei Urkunden aus dem Süden der Rus’ (etwa aus der Kiever Gegend) besitzen. Alle älteren Urkunden stammen aus dem Norden und tragen auch alle Merkmale des Novgoroder Dialekts.
Hier die älteste Novgoroder Urkunde (nach 1192):
Ce въдале Варламе свẠтомоу Съпасоу землю и огородъ и ловища рыбьнаẠ и гоголинаı-а. и пожни . 1. рьль противу села за Волховомъ .2. на Волхевьци коле .3. корь .4. лозь .5. волмина .6. на островѣ и съ нивами вхоу же тоу землю Хоутиньскоую въдале свẠтомоу Съпасоу и съ челẠдию и съ скотиною. А се бра(...) .1. отрокъ съ женою .2. вълос(.) 3. дѣвъка ФеврониẠ съ двѣма сынов(...) .4. недачь а конь шестеро и корова се другое село на Слоудици за (...) бнею въдале свẠтомоу Съпасоу и божницẠ въ немь свẠтаго ГеоргиẠ и нив(и) и пожни и ловища и еже въ немь. Се же все далъ Варламъ Михалевъ сынъ свẠтомоу Съпасоу. Аще кто диẠволъмь на(оуч)енъ и злыми человѣкы наваженъ цьто хочеть отẠти от нивъ ли от пожьнь ли от ловищь, а боуди емоу противень свẠтыи Съпасъ и въ сь вѣкъ и въ боудоущии.
,Dies schenkte Warlam der Kirche des Heüigen Erlösers Land und eine umfriedete Siedlung sowie Fischereiund Eiderenten jagdgründe und Wiesen: 1. eine trockene Wiese gegenüber dem Dorf hinter dem Wolchow; 2. am Wolchowetz eine Fischreuse; 3. [?]; 4. das mit Weiden bewachsene Land (?) ; 5. [ ? ] ; 6. auf der Insel samt den Wiesen all jenes Chutiner Land gab er dem Heiligen Erlöser samt den Menschen und dem Vieh. Und ... 1. einen jungen Mann mit seiner Frau; 2. [unklares Wort]; 3. die Magd Fewronija mit zwei Söhnen; 4. [unklar] und sechs Pferde und eine Kuh. Ein zweites Dorf an der Sluditza hinter [. . .] gab er dem Heiligen Erlöser und eine Kirche ist darin des heiligen Georg, und die Felder und Wiesen und Jagdgründe und was darin ist. Dies alles schenkte Warlam Michaels Sohn dem Heiligen Erlöser. Wenn jemand vom Teufel angespornt und von bösen Menschen verführt etwas wegnehmen will von den Feldern oder Wiesen oder Jagdgründen, möge sich der Heilige Erlöser von ihm abwenden in diesem Leben und im künftigen.’
Diese Schenkungsurkunde ist fast anderthalb Jahrhunderte jünger als das Ostromir Evangelium, ihre Sprache ist aber alles eher denn „ausgefeilt“ oder gar „literarisch bearbeitet“, was man im übrigen von der Sprache eines privaten Rechtsdokuments auch gar nicht erwarten darf.
Wir sind bis heute nicht in der Lage, den Text voll zu übersetzen, da wir die Bedeutung der Wörter корь, волмина, вълос, недачь einfach
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nicht kennen. Leider gehen sich die Bearbeiter der Urkundensprache nicht immer die Mühe, den Text, der ja so „russisch“ klingt, auch wirklich zu übersetzen. So kommt es, daß etwa im Glossar des Lesebuchs von Obnorskij - Barchudarov, das ja für Philologiestudenten bestimmt ist, mehrere in dieser alten Urkunde vorkommende Wörter fehlerhaft übersetzt sind. Das Glossar gibt für отрокъ die Bedeutung „Gefolgsmann, Krieger“ an (376), doch hier kann отрокъ (съ женою) unmöglich einen ,Krieger’ bezeichnen, da man einen Krieger kaum verschenken kann. Die Präposition противу wird im Glossar mit ,навстречу [entgegen]’ angegeben; in unserem Text bedeutet противу села offenbar „gegenüber dem Dorf“. Man hat sich nicht einmal die Mühe gegeben, das Wort противень im letzten Satz zu glossieren, obwohl die Fügung а боуди емоу противень Съпасъ gar nicht leicht wiederzugeben ist.
Selbst ein juridischer Text kommt nicht ganz ohne Kirchenslavisch aus : die ausgeschriebene Handschrift der Urkunde verrät einen geübten Schreiber, der ja nur ein im Kirchenslavischen bewanderter Mönch sein konnte. Angefangen vom Relativsatz и еже въ немь ist der Text fast reines Kirchenslavisch; nur die Konstruktion ,a боуди емоу противень’ (statt да боудеть) ist ostslavisch (vgl. 5.4.7.). Man vergleiche z. B. die (immer noch unerklärten) Novgoroder Perfektformen вдале (3x) im ersten Teil des Textes mit Ce же все далъ in der kirchenslavischen Schlußfloskel.
Die Syntax der eigentlichen Schenkungsurkunde ist denkbar einfach: Aufzählung mit Hilfe der Konjunktionen u und a. Charakteristisch sind auch die unnötigen Wiederholungen (вдале ..., въдале . . вдале . . ., далъ.
5.2. Wenden wir uns nun der Sprache der ältesten ostslavischen Gesetzessammlung, der Russkaja Pravda, zu. Wir wählen einen in allen Lesebüchern abgedruckten Artikel nach der Handschrift von 1282 :
(1) Оже придеть кръвавъ моуже на дворъ или синь, то видока емоу не искати, нъ платити емоу продажю 3 гривьны; (2) или не боудеть на немь знамению, то привести емоу видокъ, слово противоу слова; (3) а кто боудеть началъ, томоу платити 60 коунъ; (4) аче же и кръвавъ придеть, или боудеть самъ почалъ, а выстоупДть послу си, то то емоу за платежь оже и били; (5) аже оударить мечемь, а не оутнеть на смьрть, то 3 гривьны, а самомоу гривьна за раноу.
„(1) Kommt ein blutiger Mann in den Hof oder blau geschlagen, so braucht er / braucht man für ihn keinen Zeugen zu suchen, sondern er
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soll / man soll ihm eine Strafe zahlen 3 Griwnen; (2) oder es wird auf ihm kein Mal sein, so soll er einen Zeugen bringen, Wort gegen Wort; (3) und der begonnen haben wird, der soll / dem soll man zahlen 60 Marder; (4) wenn einer blutig kommt oder selbst begonnen haben sollte und es werden Zeugen auftreten, so ist ihm dies als Geldbuße auch wenn sie geschlagen haben / man geschlagen hat, (5) sollte (einer) mit dem Schwert schlagen, aber nicht zu Tode erschlagen, so 3 Griwnen und ihm selbst eine Griwne für die Wunde.“
Es ist unklar, in welchen „Hof" der blutige Mann kommt. Auffallend ist die in einem Gesetzestext höchst unliebsame Vieldeutigkeit zahlreicher syntaktischer Konstruktionen. So kann der Dativ емоу in (1) sowohl als Subjekt zu не искати (,er braucht nicht zu suchen’) als auch als dativus commodi einer unpersönlichen Infinitivkonstruktion aufgefaßt werden (,man braucht für ihn nicht zu suchen’).
Gänzlich unklar ist die Konstruktion платити емоу продажю in (1) : es leuchtet nicht ein, warum er (der „blutige Mann“) eine Strafe zahlen soll. Nicht viel besser steht es mit den anderen Maßnahmen, die das Gesetz vorsieht. Die Wendung (4) то то емоу за платежь оже и били ist schlechthin sinnlos.
Die syntaktische Unbeholfenheit der in juridischen Texten schriftlich niedergelegten Volkssprache ist ein ernstes Hindernis für die eindeutige Formulierung einfachster Rechtsnormen (vgl. auch Issatschenko, 1974, 241/42).
5.3. Ein letzter Auszug aus einem Vertrag zwischen der Stadt Novgorod und dem Großfürsten Jaroslav (1264 oder 1265) soll veranschaulichen, daß die Diktion juridischer Texte kaum Fortschritte gemacht hat :
... а без вины ти, княже, моужа волости не лишати, а грамоты ти, княже, не послоуживати, а пожне, княже, что пошло тобе и твоимъ моужемъ, то твое, а что былъ отялъ братъ твои Алеξaндpъ пожне, а то ти, княже, не надобѣ. А что, княже, братъ твои Aлeξaндpъ дѣялъ насилие на Новѣгородѣ, а то, княже, отстоупи дворяномъ твоимъ и тивоунимъ . . .
[. . . und ohne Schuld sollst du, Fürst, einem (freien) Mann sein Lehen nicht entziehen, und die Verträge sollst du, Fürst, nicht mißbrauchen ( ? ) [*], das, was dir und deinen Mannen zugesprochen wurde, das gehört dir, was aber dein Bruder Alexander an Feldereien entwendet hatte, das sollst du, Fürst, nicht behalten. Und das, Fürst, was dein Bruder Alexander an Novgorod an Unrecht (an Gewalt) getan hat, dies, Fürst, überlasse deinen Edlen (?) [*] und Beamten . . .].
*. Weder das Verb послуживати, noch das Substantiv дворянинъ ist bei Sreznevskij oder im Lesebuch von Obnorskij - Barchudarov über setzt. Ohne Kenntnis der Gesellschaftsstruktur Novgorods im 13. Jh. können solche Rechtstermini wie дворянинъ oder auch ти(в)унъ überhaupt nicht übersetzt werden.
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Noch immer ist die Syntax recht anspruchslos, es herrschen mechanisch aneinandergereihte Sätze vor, die nur durch a voneinander getrennt sind. Ein thematischer Plan, ein logischer Zusammenhang zwischen den einzelnen Sätzen ist nicht zu erkennen. Bei der sprachlichen Beurteilung solcher Texte darf man nicht außer acht lassen, daß zur gleichen Zeit Dante seine Verse in einer dem gesprochenen Italienisch sehr nahen Sprache schrieb, die Troubadours in verschiedenen Sprachen Lyrik verfaßten und daß es in der Rus’ spätestens seit den Zeiten des Metropoliten Hilarion (seit 1051 in Kiev) künstlerisch überaus wertvolle Originaltexte gab, die allerdings nicht altrussisch, sondern kirchenslavisch geschrieben waren.
Die führenden Geister der alten Rus’ waren sich von Anfang an der Scheidelinie bewußt, welche die „Ignoranten“ von den wirklich gebildeten Zeitgenossen trennte. Seine Ehrfurcht vor der Würde und Erhabenheit der (altbulgarischen) Hochsprache kleidet der Metropolit Hilarion (zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts) in die Worte:
Не къ невѣдущимъ бо шипеть, но преизлиха насыщьшемся сладости книжныя.
,Nicht an die Unwissenden wendet man sich, sondern an diejenigen, die reichlich gekostet (= sich reichlich gelabt) von der Süße der Bücher.’
In der alten Rus’ sind книгы (gr. βιβλία) ausschließlich Werke religiösen Inhalts (vgl. z. B. Ad. Stender-Petersen 1966, 110 ff.).
5.4. Für die Rechtsund Verwaltungssprache der Rus’ sind folgende Merkmale charakteristisch :
(1) Das Fehlen einer „syntaktischen Perspektive“; Aneinanderreihung kurzer Hauptsätze ; eindeutiges Überwiegen der Parataxis vor der Hypotaxis.
(2) Beinahe völliges Fehlen von Relativsätzen.
(3) Dativ + Infinitiv mit modaler „Soll“-Bedeutung: волости тобе не раздавати ,du sollst keine Lehen vergeben’ (1264/65).
(4) Wiederholung von Präpositionen: Поклонъ от князя от Михаила къ отьцю ко Владыцѣ. То ти, отьче, повѣдаю съ братомь своимь съ старѣишимь съ Даниломь (Novgor. Urk. 1294 bis 1301).
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(5) Nominativ statt des erwarteten Akkusativs femininer a-Stämme nach einem Infinitiv eines transitiven Verbs: правда дати ,einen Eid schwören’; diese Konstruktion ist nur auf den Norden beschränkt.
(6) Das Präteritum auf -лъ ist die weitaus häufigste Vergangenheitsform. Der Aorist ist selten, das Imperfektum fehlt ganz.
(7) Typisch für die Urkundensprache ist die aus der Volkssprache stammende hortative Verwendung der Konjunktionen а, и, ти mit dem Imperativ oder mit dem Indikativ Präs. : а Богъ боуди за тѣмь „da sei Gott vor“ (Urk. um 1130). Das Kirchenslavische gebraucht in analogen Fällen Konstruktionen mit да + Indikativ: да бѫдетъ (vgl. Issatschenko 1970 b, 193). Vgl. auch 4.9.
(Zwei Sprachen, zwei Stile oder zwei „Sprachtypen“?)
6. Die Fiktion einer einheitlichen, nur in verschiedenen „Typen“ oder „Stilen“ vertretenen „altrussischen Literatursprache“ läßt sich jedoch auf die Dauer nicht aufrechterhalten: die linguistischen Tatsachen, die gegen eine solche Interpretation sprechen, sind allzu evident. So weicht in jüngster Zeit der Mythos von einer einheitlichen Literatursprache der ältesten Zeit einer weniger starren Darstellung.
6.1. In seiner für einen breiten Leserkreis bestimmten Broschüre schreibt der sowjetische Sprachhistoriker I. S. Uluchanov über das Verhältnis von Kirchenslavisch und Ostslavisch: ,Zwei nahe (verwandte), doch zwei verschiedene Sprachen’ (1972, 22).
6.2. Eine bemerkenswerte, wenn auch die wahren Verhältnisse eher verhüllende Stellung nimmt R. I. Avanesov in seinem bereits 3.3. zitierten Referat zum VII. Internationalen Slavistenkongreß in Warschau ein. Er schlägt vor, die „historisch-ethnische“ und die „funktionelle“ Interpretation des Kirchenslavischen (in seiner Terminologie „Altslavischen“) auseinanderzuhalten. Vom „funktionellen“ Standpunkt aus gehört das Kirchenslavische in gleichem Maße allen Süd- und Ostslaven und kann nicht „hinsichtlich der Sprache der alten Ostslaven als etwas Äußerliches (чем-то внешним) oder Fremdes betrachtet werden“ (Avanesov 1973, 6). Meint man die gelehrten Kleriker, die sich die kirchenslavische Grammatik und die (griechische) Stilistik in jahrelanger Arbeit angeeignet hatten, dann muß man Avanesov widerspruchslos beipflichten: für den Theologen, der das Kirchenslavische gemeistert hatte, war die Sprache der Liturgie seiner Kirche, die Sprache der Bücher, die er zur Erlangung des Seelenheils und zu seiner geistigen Erbauung las, in der Tat „nichts Fremdes“. Meint man aber den Laien, der diese Sprache
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beim Gottesdienst hörte und in ihr zu beten gelernt hatte, dann muß Avanesovs Behauptung widersprochen werden. Als Sprachwissenschaftler kann ich mir allerdings über die „historisch-ethnische“ Stellung des Kirchenslavischen keine Meinung bilden. Sprachlich jedenfalls war das Kirchenslavische für die Ostslaven, wie wir gezeigt zu haben glauben, schlechterdings unverständlich, so daß Avanesovs Beteuerungen, das Kirchenslavische sei in der alten Rus’ von den Ostslaven als ,Muttersprache’ empfunden worden („своим, родным языком“, 1973, 9) durch Tatsachen kaum gestützt werden können. Solche Beteuerungen werden von Avanesov und anderen offenbar deshalb gemacht, um zuletzt sagen zu können, die russische Literatursprache hätte „eine ununterbrochene schriftliche Tradition von der ältesten Zeit bis auf unsere Tage bewahrt“ (ib., 12). Das Kirchenslavische wird ad hoc umbenannt und heißt von nun an „altrussische buchmäßig-schriftliche kirchenslavische Sprache“ (древнерусский книжно-письменный церковнославянский язык) ( ! ), die zusammen mit dem dialektal gefärbten volkstümlichen Ostslavisch „ein einziges kompliziertes System bildete“ (ib., 9). Avanesov unterläßt es bedauerlicherweise, die Merkmale dieses „komplizierten Systems“ auch nur andeutungsweise zu nennen. Einer der Gründe übrigens, warum das Kirchenslavische für die Ostslaven „keineswegs etwas Künstliches“ darstellte, sieht Avanesov in der Tatsache, daß diese Sprache „im aktiven Gebrauch stand“ (ib., 8). Es ist nicht ganz klar, in welchem Sinne hier das Epitheton „aktiv“ gebraucht wurde. Es sei aber immerhin darauf verwiesen, daß auch das Lateinische etwa bei den Polen und Tschechen „in aktivem Gebrauch stand“ und dies zum Teil bis hinein ins 19. Jahrhundert. Somit war auch das Lateinische in Polen, Böhmen oder Mähren (im Avanesovschen Sinne) keineswegs etwas „Künstliches“.
Für den auf Texte gestützten Sprachhistoriker sind die Beweggründe solcher Versuche, die Rolle des Altbulgarischen (ohne jede Anführungszeichen) als liturgische Sprache im Kiever Staat zu leugnen oder doch wesentlich zu schmälern, schlechterdings unverständlich. Durch noch so emotionell formulierte Beteuerungen lassen sich Tatsachen eben nicht aus der Welt schaffen. Aber diese engagierte und gefühlsgeladene Auseinandersetzung mit vermeintlichen „Irrlehren“ scheint nicht abbrechen zu wollen.
6.3. Der sowjetische Russist F. P. Filin, ein Schüler des bekannten Sprachtheoretikers Ja. N. Marr, sieht ein, daß man den Mythos von einer einheitlichen altrussischen Literatursprache nicht länger aufrechterhalten
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kann: „Es ist für jedermann offenkundig, daß die Sprache der ,Russkaja Pravda’ [. . .] nicht dieselbe ist, wie die der kanonischen und der anderen im Gottesdienst verwendeten Bücher“ (1974, 5). Das Vorhandensein einer besonderen Sprache im juridischen Schrifttum (деловая письменность) paßt aber nicht in den Rahmen einer „einheitlichen“ altrussischen Literatursprache. „Was tun mit diesem Widerspruch?“ (ib., 5). Doch Filin beantwortet diese Frage nicht im Einklang mit den sprachlichen Realitäten (es gibt eben keine einheitliche altrussische Literatursprache), sondern greift wieder zu allgemeinen außersprachlichen Überlegungen.
Filin verwirft die Meinung, die „altrussische Literatursprache“ sei die Sprache nur jener Literatur, die dem mittelalterlichen Leser als erbauliche Lektüre diente. Die Gesetzessammlung der „Russkaja Pravda“ ist z. B. nicht als Lektüre gedacht und doch ist sie, nach Filin, in der „Literatursprache“ abgefaßt (ib., 6). Es ist (immer nach Filin) völlig falsch, nur die Urkundensprache als jene Sprache anzusehen, die ausschließlich praktischen Zwecken diente, und sie als solche der Sprache der liturgischen Texte entgegenzusetzen. Unter Berufung auf D. S. Lichačev behauptet Filin, „alle Formen des altrussischen Schrifttums waren für praktische Zwecke bestimmt“ (ib., 6). Die kanonischen und religiös-didaktischen Werke hatten ja ebenfalls eine ausgeprägt praktische Bestimmung: „sie dienten dem religiösen Ritual, der Propaganda und der Festigung der christlichen Dogmen und Ideen“ (1974, 6). Man kann, wenn man will, den Begriff „praktisch“ beliebig weit fassen. So kann man z. B. das Sakrament der Taufe als eine durchaus praktische Maßnahme zur Erlangung des Seelenheils ansehen. Was Filin hier wirklich aus der Welt schaffen möchte, ist der (kaum zu übersehende) funktionelle Unterschied zwischen Texten, die „zum Lesen“ da sind, und Texten, die „praktische Zwecke“ verfolgen. Wenn es sich aber im Zuge seiner Analyse herausstellt, daß eigentlich alle Texte, auch die kirchlichen, letztlich durchaus „praktischen“ Zwecken dienten, dann ist der Status des der Volkssprache nahen „Altrussischen“ gerettet, dann muß auch der Urkundensprache jene dignitas zugesprochen werden, die bisher nur die kirchliche Hochsprache besaß. Filin greift auf die von mir 1958 formulierten Merkmale einer „Literatursprache“ zurück und meint, auch die Urkundensprache sei „genormt“ gewesen (9). Hier irrt Filin : die Urkunden aus Novgorod und Pskov, aus Smolensk, aus Gallizien und später aus Moskau weisen sogar sehr beträchtliche Unterschiede in der Orthographie, im Wortschatz und selbst in der Syntax auf (vgl. 5.3., d). Für das 12. und selbst das 13. Jahrhundert fehlen uns
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aber einfach die Texte, um irgendeine „Normierung“ beobachten zu können. Natürlich versagt das Merkmal der Genormtheit auch bei den kirchenslavischen Texten. Bis zum Ende des 14. Jahrhunderts kann von einer orthographischen, grammatischen und lexikalischen Norm überhaupt nicht gesprochen werden. Der Ausdruck „Literatursprache“ ist eben im Mittelalter ein Anachronismus und läßt sich auf keinerlei Texte jener Zeit anwenden.
Und nun kommt der entscheidende Sophismus: „Das sachbezogene Schrifttum (деловая литература) ist auch in unserer Zeit sehr weit verbreitet (очень широко представлена), doch wird niemand leugnen wollen, daß es in der genormten („на нормативном“!) Literatursprache verfaßt ist“ (1974, 6). Und unter voller Mißachtung der elementarsten historischen Dialektik schreibt Filin: „So steht es jetzt, so stand es immer seit dem Aufkommen des Schrifttums“ (1974, 6; gesperrt von A. I.).
Für Filin scheint also „Literatursprache“ eine metaphysische, von historischen Gegebenheiten unabhängige, beinahe ewige Kategorie zu sein („seit dem Aufkommen des Schrifttums“). Und da es in der alten Rus’ seit dem Aufkommen des Schrifttums zwei verschiedene Sprachen gibt, deren Unterschiedlichkeit Filin nicht mehr ignorieren kann, ist es nur noch ein Schritt zur Postulierung gleich zweier Literatursprachen in der alten Rus’: „Es entstanden zwei schriftlich festgelegte Literatursprachen, die zwar nahe verwandt, aber selbständig waren“ (Filin 1974, 8).
Die überraschenden Schlußfolgerungen des Marr-Schülers Filin führen uns aber letzten Endes zur Ausgangsstellung zurück: „Recht hatte S. P. Obnobskij mit seiner These von zwei Literatursprachen in der alten Rus’“ (Filin 1974, 9).
Die Situation wird dadurch noch verwickelter, daß Filin zusätzlich noch zwei Varianten der Literatursprache (oder der Literatursprachen?) ansetzt: „einer schriftlichen und einer mündlichen“ (1974, 9). Es bleibt nur zu wünschen, daß wir in irgendeinem Text die „mündliche Variante der altrussischen Literatursprache“ belegen könnten.
Die Annahme der gleichzeitigen Existenz zweier nahe verwandter mittelalterlicher „Literatursprachen“ ist gewagt, weil die Geschichte keine Parallelen zu kennen scheint. Wenn Filin die funktionelle Differenzierung zwischen der liturgischen Hochsprache und der rein praktischen Zwecken dienenden Amtsund Geschäftssprache nicht gelten lassen will, so fragt es sich, nach welchen Gesichtspunkten diese beiden „nahe verwandten Sprachen“ auseinander gehalten wurden. Weshalb
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wurde z. B. das durchaus „praktische“ Ziel der „Propagierung der christlichen Glaubensiehre“ etwa in Predigten nicht in der doch auch für praktische Zwecke geschaffenen ostslavischen Geschäftssprache verwirklicht? Oder warum wurden Verträge und Schenkungen nicht in kirchenslavischer Sprache verfaßt, wenn diese Sprache, wie Filin so treffend sagt, rein praktischen Zwecken diente ? Oder waren vielleicht doch funktionelle Unterschiede maßgebend ?
6.4. Spätestens seit A. A. Šachmatov (1915) spukt in der ostslavischen Sprachgeschichte das Phantom einer „Kiever Koine“. Es hat sich, so wird behauptet, in der Hauptstadt des Reiches eine Verkehrssprache herausgebildet, die sozusagen über den Dialekten stand. Irgendwelche konkreten sprachlichen Merkmale dieser „Koine“ werden nicht angeführt. Filin postuliert die Existenz gleich mehrerer solcher Verkehrssprachen, die er „sprachliche (!) Koines“ (языковые койне) nennt (1974, 8) und die in „großen städtischen Zentren“ entstanden sein sollen (ib.). Leider bringt auch Filin keinerlei Belege für seine Behauptungen. Diese uns selbst in groben Zügen unbekannte „sprachliche Koine“ soll aber, nach Filin, gerade die „mündliche Variante der altrussischen Literatursprache“ abgegeben haben. In der Nestorchronik werden zwar häufig die Ansprachen der Fürsten und die Dialoge der handelnden Personen angeführt, doch ist nicht einzusehen, warum diese zweifellos etwas stilisierten umgangssprachlichen Texte als „überdialektale Koine“ bezeichnet werden sollen. Wir haben ja keinerlei Möglichkeiten, diese Texte etwa mit dialektal gefärbten Texten zu vergleichen. Die Mythenbildung in der russischen Sprachgeschichte kann vielleicht am Stichwort „Koine“ besonders anschaulich illustriert werden.
6.5. Einige Autoren unterscheiden auch schon in der ältesten Periode einen volkstümlich-poetischen oder folkloristischen „Stil“. Efimov rechnet das Igorlied dem „literarisch-künstlerischen narrativen Stil der altrussischen Literatursprache“ zu (1963, 54). Gemeint ist die aus heidnischer Zeit stammende mündliche Tradition, die man im Russischen meist als Folklore bezeichnet. Daß eine solche Tradition bestanden haben muß, ist unbestritten. Aber ebenso unbestritten ist, daß wir bis zum 17. Jahrhundert keine schriftlichen Aufzeichnungen folkloristischer Texte besitzen, wobei die allererste Aufzeichnung nicht von einem Russen, sondern vom schottischen Kaplan Richard James um 1618/ 1619 gemacht wurde. Die Russen selbst beginnen sich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts für ihre Volkskunst zu interessieren.
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Warum gibt es bei den Ostslaven so gut wie keine Aufzeichnungen volkstümlicher literarischer Werke aus der vorchristlichen Tradition? Filin meint lakonisch, es hätte „kein Bedürfnis für die Aufzeichnung bestanden“ (1974, 7), da angenommen werden muß, daß die Werke der Volkskunst mündlich vorgetragen und weitergegeben wurden. Und Filin stellt die Frage: „Darf man die Sprache der Folklore aus dem Begriff der Literatursprache ausschließen, nur weil sie nicht schriftlich niedergelegt (письменно отмечен) war?“ (ib.).
Die Existenz einer mündlichen vorchristlich-slavischen Tradition soll hier selbstverständlich nicht geleugnet werden. А. M. Pančenko hat mit großer Sachkenntnis und mit aller notwendigen Zurückhaltung den Bereich der Folklore bei den Ostslaven abgesteckt (1973, 3 ff.). Der Grund für ein völliges Fehlen schriftlicher Aufzeichnungen vorchristlicher Texte ist aber nicht bloß auf „mangelndes Bedürfnis“ zurückzuführen. Die offizielle orthodoxe Kirche war in der Bekämpfung des heidnischen Erbes ungleich rigoroser und konsequenter als die römische Kirche.
Volkstümliche Feste, Bräuche, Lieder, Tänze werden in den ostslavischen Quellen stets als Werke des Satans bezeichnet, die Sänger, Musikanten, Gaukler (скоморохи) stehen, nach Ansicht der kirchlichen Behörde, auf derselben sozialen Stufe wie die Dirnen. Aus den Fresken an den Wänden der Wendeltreppe, die in der Kiever Sophienkathedrale zur großfürstlichen Loge führte, wissen wir, daß Musikanten und Akrobaten bei Festveranstaltungen am großfürstlichen Hof als Unterhalter auftraten [3]. Wir wissen aber nichts über Text und Musik der vorgetragenen Werke. Daß es bei den Ostslaven kultische Lieder, Epik, Lamentationen, Rätsel, Sprüche, Märchen usw. gegeben hat, ist sehr wahrscheinlich, doch wissen wir nicht, welche von diesen Texten in Versen und welche in Prosa vorgetragen wurden, wobei auch über die Natur der verwendeten Versmaße nichts ausgesagt werden kann. Es ist kaum etwas gewonnen, wenn ohne jeden Beleg behauptet wird, „die Folklore hätte in der alten Rus’ zahlreiche wichtige Funktionen der modernen künstlerischen Literatur ausgeübt“ (Filin 1974, 7).
3. In der Vita des heiligen Theodosius des Kiever Höhlenklosters (Феодосий Печерский) wird von einem Besuch des Heiligen bei Fürst Svjatoslav berichtet. Theodosius sah „viele, die vor ihm spielten; die einen entlockten Guslitöne (гуслныя гласы), andere stimmten Orgelpfeifen an, wieder andere spielten andere Musikinstrumente (иныя мусикийская), und also [sah er] alle in fröhlicher Stimmung, wie es Brauch ist vor dem Fürsten“ (Zitiert nach Pančenko 1973, 5).
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Da man, wie gesagt, so gut wie nichts über die Sprache der Folklore vor dem 17. Jahrhundert weiß, ist es müßig, danach zu fragen, ob man sie auch „in den Begriff der Literatursprache“ einschließen soll. Wäre dann die Sprache der mündlichen Überlieferung nach Filin nicht als dritte „altrussische“ Literatursprache zu werten?
6.6. Die Polemiken um den Status der in der alten Rus’ gebrauchten Sprachen sind unter einem bestimmten Gesichtswinkel zu verstehen. Durch die Wortverbindung „altrussische Literatursprache“ soll der Eindruck gefestigt werden, als sei diese Sprache der unmittelbare Vorfahre der modernen „neurussischen“ Literatur spräche. Obwohl es heute kaum einen Sprachhistoriker gibt, der die Berechtigung der Bezeichnung „ostslavisch“ für das 11. bis 14. Jahrhundert bestreiten würde, knüpft man nur allzu bereitwillig an die „Tradition“ an, eine Tradition übrigens, die im zaristischen Rußland als Mittel politischer Unterdrückung der ukrainischen Emanzipationsbestrebungen entstanden war, zu einer Zeit, als man das Ukrainische offiziell „Kleinrussisch“ nannte und es nur als bäuerlichen Dialekt des eigentlichen Russisch gelten ließ. Ausländische Autoren übernehmen meist unkritisch den an sich sehr „bequemen“ Terminus „altrussisch“ („Old Russian”, «vieux russe») und tragen damit zur Festigung eines historisch unhaltbaren Begriffes bei. Ebenso wie die „altrussische Literatur“, umfaßt auch die „altrussische Sprache“ den Zeitraum vom 11. Jahrhundert bis zum Ende des 17. Jahrhunderts.
Trotz aller Bemühungen, den Mythos von der Existenz einer „altrussischen Literatursprache“ zu stützen, kann es heute keinem Zweifel unterliegen — wenn man schon für das Mittelalter den nur in der modernen Zeit gültigen Begriff „Literatursprache“ gelten läßt —, daß die in der Kiever Rus’ und im Moskauer Staat mit der Autorität und der Würde einer Hochsprache ausgestattete Sprache keineswegs Russisch, sondern Kirchenslavisch war. Man wird sich eben mit der Tatsache abfinden müssen, daß eine künstliche, aus Bulgarien importierte und von der lingua vernacula der Ostslaven völlig verschiedene Sprache den Ostslaven die christlich-byzantinische Kultur vermittelte. Es ist nichts Entehrendes an diesem Sachverhalt: durch das Kirchenslavische konnten die Ostslaven die von den größten Philosophen und den hervorragendsten Rednern und Theologen vervollkommnete und ausgefeilte Sprache übernehmen, welche ihnen die in vielen Jahrhunderten gewachsene griechisch-hellenistische Gedankenwelt vermittelte. Im Vergleich zu der feierlichen, sicheren und anspruchsvollen Ausdrucksweise des Altkirchenslavischen wirken etwa die ersten christlichen Texte, die aus dem
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Lateinischen ins Althochdeutsche übertragen wurden, geradezu schülerhaft. Für die gesamte kulturelle Entwicklung der Ostslaven und vor allem auch der Russen war gerade der sprachliche Anschluß an die griechische Gedankenwelt entscheidend. Kein Russe braucht sich dessen zu schämen, daß seine Vorfahren die christliche Kultur und das damit zusammenhängende Schrifttum nicht in ihrem naturgewachsenen Idiom, sondern in einer verfeinerten, ausdrucksreichen und würdevollen Sprache, eben dem Kirchenslavischen, übernahmen, auch wenn Filin das Kirchenslavische verächtlich „kirchlicher Jargon“ nennt (1974, 13).
Das Kirchenslavische wurde in die Kulturkonzeption der Ostslaven ebenso integriert wie etwa das Lateinische in die Kulturkonzeption des Abendlandes. Das bedeutet aber keinesfalls, daß das Kirchenslavische auch sprachlich in das Ostslavische integriert wurde.
6.7. Man hat in den letzten Jahren sehr viel Mühe verwendet, um die Existenz einer nicht ostslavischen Hochsprache in der Kiever Rus’ entweder ganz zu leugnen oder doch in Frage zu stellen. Dabei hat man aber die linguistische Seite des Problems arg vernachlässigt. Es gibt nicht einmal einen Abriß der Geschichte des Kirchenslavischen auf ostslavischem Boden, einer Geschichte, die sich immerhin über neun Jahrhunderte erstreckt. Nur eine philologisch einwandfreie historische Untersuchung kann für jede der in Frage kommenden Epochen jeweils den Grad der sprachlichen Beeinflussung des Kirchenslavischen durch das Russische bzw. durch einzelne lokale Dialekte feststellen.
(Fortbestand der Diglossie bis Peter I)
7. Die Hegemonie des Kirchenslavischen in der geistigen Landschaft der Ostslaven sollte im 14. Jahrhundert durch entscheidende kulturpolitische Maßnahmen noch gefestigt werden. Man hatte bisher angenommen, daß als Folge des Türkeneinfalls bulgarische und serbische Mönche in Massen nach Rußland flüchteten und hier eine Renaissance der südslavischen Tradition des Kirchenslavischen einleiteten. Neuerdings hat I. Talev überzeugend gezeigt, daß diese „Massenemigration“ zu den zahlreichen Mythen der russischen Sprachgeschichte zählt (1973, 80 ff.). Die künstliche Archaisierung der ostslavischen Redaktion des Kirchenslavischen ist vor allem zwei bulgarischen Persönlichkeiten zuzuschreiben: dem vom Patriarchen bestätigten Metropoliten Kiprian, der 1389 nach Moskau kam, und Camblak, den der litauische Fürst Vytautas (oder Vitovt) offiziell aus der Moldau geholt hatte. Das kirchenund kulturpolitische Ziel, das sie verfolgten, war die „Säuberung“ des in Moskau geläufigen Kirchenslavisch von Elementen, die sich nicht mit der zeitgenössischen mittelbulgarischen Redaktion des Kirchenslavischen
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deckten. Die geistigen Führer dieser „Reform“ müssen „mit dem ganzen Gewicht ihrer Autorität darauf bestanden haben, daß die mittelbulgarische Rechtschreibung der in den ältesten kirchenslavischen Büchern verwendeten näher war, während die russische Schreibweise davon abwich, da sie phonologische Züge der gesprochenen russischen Sprache zeigte“ (Talev 1973, 108). Die künstliche Archaisierung der Kirchensprache durch den Metropoliten Kiprian ging aber weit über eine Orthographiereform und eine grammatische Archaisierung hinaus. Im Gefolge der sprachlichen Revision wurde auch ein neuer Stil nach Rußland verpflanzt, der in der südslavisehen Literatur einen hohen Grad an Vollkommenheit erreicht hatte.
Die Maßnahmen des Metropoliten Kiprian betrafen ausschließlich die „hohe“ Literatur des mittelalterlichen Rußland (Lichačev I960, 117). Die russische Urkundensprache blieb von der Orthographiereform sowie vom blumigen Stil der mittelbulgarischen Rhetorik unberührt, während im 14. Jahrhundert in Bulgarien der neue Stil für das gesamte Schrifttum einschließlich der Urkundensprache typisch wurde (Talev 1973, 33). Die Demarkationslinie, die im Moskauer Staat die „re-bulgarisierte“ Hochsprache von allen anderen Sprachäußerungen trennte, wurde immer deutlicher. Die Kluft zwischen der kultivierten Hochsprache und der gesprochenen russischen Sprache sowie der auf ihr fußenden Kanzleisprache wird immer weiter.
7.1. Die von der Moskauer Staatsideologie geförderte Abkapselung der feierlichen Hochsprache von allen Einflüssen des Trivialen, Alltäglichen und daher Gemeinen führte zu einer stilistischen Überzüchtung des Kirchenslavischen. Die nüchternen Texte der führenden Humanisten, die grundlegenden lateinischen Traktate zur Mathematik, Medizin, Astronomie oder Mechanik waren zu nüchtern, um in die abstrakt-feierliche Diktion des Spätkirchenslavischen übertragen werden zu können. Andererseits war die dem gesprochenen Idiom nahestehende Kanzleisprache zu unbeholfen und naiv, um abstrakte Gedankengänge wiederzugeben. Man wird nicht fehlgehen in der Annahme, daß die verspätete Entwicklung der empirischen Wissenschaften, der Philosophie, der Technik in Rußland zu einem Großteil aus dem Fehlen einer brauchbaren Sprache zu erklären ist. Dabei war der soziale Stellenwert der eigentlichen russischen Sprache in der Gesellschaft so gering, daß das erste gedruckte Buch in dieser Sprache — das Gesetzbuch „Uloženie“ — erst 1649 erschien. Schon dieser Umstand allein spricht eindeutig dafür, daß bis zu diesem Zeitpunkt nur das Kirchenslavische als „druckwürdig“ befunden
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wurde. Gebraucht man also den Begriff „Literatur spräche“ unformell, so wird man nur das Kirchenslavische als einzige „Literatursprache“ des Moskowiterstaates ansehen können.
7.2. Die kirchenslavisch-russische Diglossie dauerte bis zum Ende des russischen Mittelalters, das heißt bis zum Beginn der großen Reformen Peters I. um 1700. Noch 1696 faßt der Autor der ersten russischen Grammatik, der deutsche Patriziersohn Heinrich Wilhelm Ludolf, die sprachliche Situation bei den Moskowitern in folgenden Sätzen zusammen:
„Die Russen brauchen die Kenntnis des Kirchenslavischen (linguae Slavonicae), da bei ihnen nicht nur die Heilige Schrift und die übrigen gedruckten Bücher, mit deren Hilfe der Gottesdienst abgewikkelt wird, ausschließlich in kirchenslavischer Sprache (Slavonico idiomate) existieren, sondern man auch über Fragen der Bildung oder der Wissenschaften weder schreiben noch verhandeln kann, ohne zum Kirchenslavischen zu greifen. Je gelehrter jemand erscheinen will, desto mehr mischt er kirchenslavische Elemente in seine Reden und Schriften.“
Und weiter:
„Adeoque apud illos dicitur, loquendum est Russice et scribendum est Slavonice.“
Ludolf übersieht nicht die Gefahren dieser Diglossie und meint, es werde der russischen Nation zum Schmucke und zum Nutzen gereichen, wenn man beginnen würde, nach dem Vorbild anderer Völker (more aliarum gentium) die eigene Sprache zu pflegen und in dieser Sprache gute Bücher herauszugeben“ (Praefatio). Von der Existenz einer solchen „eigenen“ Sprache weiß Ludolf allerdings noch nichts zu berichten, weil es einfach um 1700 noch keine russische Literatursprache gab.
7.3. Weder das Kirchenslavische noch die Umgangs- oder Kanzleisprache der Moskowiter sollte im weiteren Verlauf der Geschichte zur modernen russischen Nationalsprache erhoben werden. Das Spezifische an der sprachlichen Entwicklung in Rußland ist die Zäsur, die zwischen der langen Zeitspanne der Diglossie (11. bis 17. Jahrhundert) und dem Aufkommen der modernen russischen Sprache liegt.
Obwohl der Anteil kirchenslavischer (altbulgarischer) Morpheme, Wörter und Wendungen an der heutigen Hochsprache beträchtlich ist, kann das moderne Russisch nicht als Fortsetzung des Altkirchenslavischen angesehen werden. Zu den zahllosen Mythen, die das ernste Studium der russischen Sprachgeschichte so erschweren, gehört auch der Mythos von einer ununterbrochenen, nahtlosen Evolution einer Sprache (der „russischen“), die vom 11. Jahrhundert an bis auf den heutigen Tag das mit sich selbst identische Subjekt der geschichtlichen Entwicklung
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bleibt. In Wirklichkeit gehört die Periode der Diglossie (11. bis 17. Jahrhundert) eindeutig zur Vorgeschichte der russischen Gegenwartssprache (vgl. Issatschenko 1974). Bisher hatten die russischen Sprachhistoriker alle ihre Energien auf die Erforschung der sogenannten „Volkssprache“ konzentriert. Wir verfügen heute über durchaus verläßliche Daten der ostslavischen und russischen historischen Laut- und Formenlehre sowie über einige brauchbare Vorarbeiten auf dem Gebiete der historischen Syntax und Wortbildungslehre. Die historische Dialektologie ist weniger gründlich bearbeitet, spielt aber in der russischen Sprachgeschichte eine untergeordnete Rolle.
Was dem Sprachhistoriker fehlt, sind Monographien über verschiedene Teilaspekte der Entwicklung des Kirchenslavischen auf russischem Boden. Wir wissen sehr wenig über die Entwicklung der kirchenslavischen Syntax, über die kirchenslavische Wortbildung. Wir haben es noch nicht gelernt, deutlich zwischen der ukrainisch-weißrussischen und der eigentlichen moskowitischen Redaktion des Kirchenslavischen zu unterscheiden, und unterschätzen deshalb immer noch den Anteil der ukrainischen und weißrussischen Autoren an der Kodifizierung und Weiterentwicklung des Kirchenslavischen ukrainischer Prägung. Weder der Grammatiker M. Smotrickij noch die Lexikographen Berynda oder Prokopovič waren Russen. Auch die Sprache, die sie bearbeiteten, war keineswegs das in Moskau geläufige Kirchenslavisch, wobei nicht vergessen werden darf, daß der Einfluß der ukrainischen Redaktion auf die Moskauer Hochsprache im 17. Jahrhundert ständig zunahm (Shevelov 1960). In russischen sprachgeschichtlichen Werken werden die Ukraine und das weißrussische Gebiet euphemistisch stets „Südwestrußland“ (Юго-Западная Русь) genannt, und Werke eines Smotrickij oder Berynda werden so behandelt, als seien es Denkmäler der russischen Sprache. Aber hier nähern wir uns einem an Mythenbildung auch nicht gerade armen Bereich, der weit über die von uns gestellte Problematik hinausreicht.
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Vortrag in der Sitzung am 6. März 1974
Alle Rechte Vorbehalten — ISBN 3 7001 0095 7
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